VI.2 Einsamkeit

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VI.2 Einsamkeit

Menschen können einsam sein. Daran kann es keinen Zweifel geben. Doch die Frage, um die es mir geht, ist, ob diese Einsamkeit, die wahrscheinlich jeder erwachsene Mensch schon einmal erfahren hat, prinzipieller und somit unüberwindbarer Natur ist, wie es aus der Annahme der Innen-Außen-Dichotomie in Descartes’scher Tradition zu folgen scheint, oder ob nicht vielmehr das Gefühl der Einsamkeit, ähnlich dem der Unfreiheit, nur deswegen auftreten kann, weil wir prinzipiell nicht einsam sind. Wie aus dem Vorhergehenden schon deutlich geworden sein sollte, bin ich der Überzeugung, daß letzteres der Fall ist.
Nach der cartesianischen Theorie hat jeder Mensch unmittelbares Wissen über die Vorgänge in der eigenen Seele, kann dagegen bestenfalls Vermutungen über die Seelen der Mitmenschen anstellen. Dabei hat man sich die Seele als eine geisterhafte Substanz vorzustellen, die wie der Körper in der Zeit, jedoch nicht im Raum existiert. Diese Annahme ist der Hintergrund für viele spannende Geschichten über Zombietum, Seelenwanderung, Wiedergeburt, Geistererscheinungen etc. Sie verschafft der Esoterik, dem Reden von Magie und dem Glauben an höhere Wesen eine solide Grundlage. So mag man schließen, daß die Welt ärmer wäre ohne diese Theorie. Doch die Welt krankt auch an dieser Theorie, denn es folgt aus ihr eine unüberwindbare Einsamkeit. Ryle beschreibt die Folgen aus der Annahme eines Leib-Seele- Dualismus so:

“Der Geist eines Menschen kann nur auf dem Umweg über die öffentliche physikalische Welt auf den eines anderen einwirken. Der Geist ist sein eigener Ort, und in seinem Innern führt jeder von uns das Leben eines Robinson Crusoe des Geistes. Wir können die Körper anderer Leute sehen, hören und anstoßen, aber für die geistigen Vorgänge in anderen sind wir unheilbar blind und taub und ohne Einfluß auf sie.” 1

Die anderen Menschen sind für uns unbekannte Wesen, bei denen wir nicht einmal sicher sein können, ob sie überhaupt beseelt sind; ja, womöglich sind wir selbst der einzige beseelte Mensch auf der Welt: Der Solipsismus, den man auch als die höchste Form der Einsamkeit bezeichnen kann, ist eine mögliche Konsequenz aus dieser Theorie. Doch selbst wenn wir annehmen, daß die anderen Körper auch beseelt sind (vielleicht weil Gott uns nicht täuschen würde und es immer gut mit uns meint), ist eine starke Egozentrik und ein vulgärer Egoismus eine naheliegende Einstellung meinen Mitmenschen gegenüber.
Von meinen Interessen, Wünschen, Absichten habe ich gesicherte Kenntnis durch Introspektion – ich sehe in mich hinein -, die der anderen, falls sie welche haben, kenne ich nicht – ich kann nicht in sie hineinsehen. Also kümmere ich mich um meine Interessen, Wünsche, Absichten, da ich mich um etwas mir Unbekanntes nicht kümmern kann. Wozu auch: Ich bin ich und nicht die anderen. Daß wir trotzdem nicht rein egoistisch handeln, kann nur funktional erklärt werden – entweder mit einem Verweis auf Gott und sein Gebot zur Nächstenliebe oder mit einem Verweis auf ein Gesetz der Vernunft, wie bei Kant, das uns gebietet moralisch zu handeln, weil wir sonst unvernünftig und unfrei handelten oder mit einem Verweis auf einen Gesellschaftsvertrag. Diese Erklärungen sind funktional, weil die anderen in ihrem Personsein dabei keine Rolle spielen. Selbst eine altruistische Einstellung ist eine funktionale Einstellung. Der Altruist verschwindet entweder als Person – er ist Selbst-los -, oder er ist auch nur ein Egoist, dessen Motive allerdings weniger offensichtlich sind: Möglicherweise treibt ihn sein schlechtes Gewissen dazu, Geld zu spenden, oder die Aussicht auf die Anerkennung der Mitmenschen. Verschwindet er als Person, kann man sein Handeln nicht mehr verstehen, und er wird heiliggesprochen (“Mutter Theresa”) oder für nicht zurechnungsfähig erklärt. Man stelle sich eine Frau vor, die auf der Straße steht und 100-Euro-Scheine an Kinder verteilt mit den Worten: “Kauft euch was Schönes!” Ist das eine Irre, eine Heilige, eine Sektenfrau auf Mitgliederfang? Altruistisches Handeln, so meine ich, ist unverständliches Handeln – und somit im engeren Sinne gar kein Handeln – oder eben kaschiertes egoistisches Handeln.
Da die Geister notwendig für sich bleiben und die Körper sich lediglich berühren können, ist die Einsamkeit des Menschen unüberwindbar. Sie ist prinzipieller Natur. Warum fühlen wir uns dann aber bisweilen nicht einsam? Was hilft uns, die Einsamkeit zu überwinden? Wenn wir es von uns aus nicht können, müssen wir etwas außerhalb unserer selbst annehmen: etwas Absolutes. Religiöse Menschen sind mit anderen Menschen durch und in Gott verbunden. Durch diese Vorstellung hat Religion etwas sehr Tröstendes. Doch aufgrund der unpersonalen Struktur der Religiösität kauft man sich als Glaubender auch alle Folgen funktionaler, also utilitaristischer Weltsicht ein, wie ich sie oben beschrieben habe. Man nimmt die Rolle eines Kindes an gegenüber seinem Schöpfer, verzichtet auf einen großen Teil seiner Verantwortung und auf einen großen Teil seiner Freiheit.

-> VI.3

Notes:

  1. Ryle (1969) S. 10.

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