VI.3 Liebe

<- VI.2

VI.3 Liebe

Der Glaube an die “wahre”, “unendliche”, “absolute” Liebe ist eine andere Form des Glaubens an das Absolute. Auf magische Weise sind dabei zwei Liebende eins und überwinden so ihre Einsamkeit. Meist enden diese Beziehungen auf wenig magische Weise, da ihre Basis eine funktionale Struktur aufweist, nämlich die Projektionsstruktur des Verliebtseins: Der andere wird nicht als Person wahrgenommen, sondern als Projektionsfläche für die eigenen Sehnsüchte, die in der Wiederspiegelung gleichzeitig gestillt und weiter gefüttert werden. Im Film “Sprich mit ihr” von Pedro Almodóvar wird das Prinzip dieser Liebe im Extrem vorgeführt. Ein Mann hat in einer Komapatientin seine perfekte Projektionsfläche gefunden, da diese keine Möglichkeit hat, mit ihrem Verhalten die Fläche zu zerstören. Diese Liebe ist funktional. Sie hat mit der Frau als Person nichts zu tun, und funktioniert nur solange, wie die Frau nicht aus dem Koma erwacht, wie die Projektionsfläche nicht zerstört wird. Es mutet seltsam an, um es schwach zu formulieren, diese Form von Liebe als “wahre” Liebe zu bezeichnen. Denn letztlich kommt es in ihr zu keiner Verschmelzung zweier Personen, sondern, falls diese Liebe erwiedert wird, gehen zwei Personen lediglich auf in ihren Wunschvorstellungen, in ihren eigenen Phantasiebildern; die Überwindung der Einsamkeit erweist sich als ein zeitlich begrenzter Trip, der nur dann in die Unendlichkeit verlängert wird, wenn die Protagonisten, oder zumindest einer der Protagonisten, rechtzeitig sterben (siehe die Filme “Romeo und Julia” von Baz Luhrmann und “Titanic” von James Cameron) oder der Film an diesem Punkt zuende ist (siehe “Die fabelhafte Welt der Amélie” von Jean-Pierre Jeunet und viele viele andere Liebeserzählungen). Man muß doch zumindest hoffen, daß es noch eine andere, nicht-funktionale Form der Liebe gibt.

Im Club der Personen sind wir gleichzeitig Individuen und Teil einer Gemeinschaft. Die anderen garantieren unsere Existenz, wie wir die ihre garantieren. Die Sprache macht uns zu Personen – zu notwendig verbundenen, sogar verschmolzenen Personen, wenn man so will. Die zeitlich unbegrenzte, tatsächliche Überwindung der Einsamkeit, die Verschmelzung mit den anderen, gelingt daher nur in der personalen Interaktion. Diese ist die Voraussetzung für eine Liebe zwischen Personen, die über die Liebe zwischen Person und Liebesobjekt, wie ich sie eben kurz skizzierte, hinausgeht. Eine personale Liebe ist eine Liebe, in der sich die Liebenden selbst und gleichzeitig die Geliebten ernst nehmen in ihren Wünschen, Sorgen, Interessen. Sie wollen, daß es den Geliebten gut geht, und wissen, daß die Geliebten wollen, daß es ihnen gut geht, so daß sie sich ebenso um ihr eigenes Wohlergehen kümmern, wie um das der anderen.
Diese Liebenden bewahren sich als Personen und verlieren sich nicht in anderen. Sie sind nicht selbstlos, da sie sich ansonsten als Personen auflösen würden. Sie sind weder altruistisch noch vulgär egoistisch. 1 Eine so verstandene Liebe bezeichnet weniger ein Gefühl, als vielmehr eine Haltung den Mitmenschen und sich selbst gegenüber, mit der allerdings Gefühle einhergehen. Diese Haltung gilt – anders als die Haltung in einer funktionalen Liebesbeziehung, die in der Regel nur jeweils einer anderen Person gegenüber eingenommen wird – allen anderen Personen gegenüber, und ähnelt somit dem christlichen Begriff der “Nächstenliebe”. Doch im Unterschied zu dieser entspringt die personale Liebe keinem Sollen (“Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst!”) sondern einem inneren Bedürfnis: Ich will personal handeln, weil es mir damit besser geht, weil ich auf diese Weise eine tiefere, freiere, zufriedenere Person bin – und weil ich dann nicht einsam bin.
Die so überwundene Einsamkeit rührte daher, daß ich eine Person bin, ein Individuum, das bei seinen Interaktionen jedoch die anderen nicht als Personen wahrgenommen hatte. Wer sich nur als Individuum sieht, bleibt alleine. Doch eine Person ist gleichzeitig Individuum und Teil einer großen Gemeinschaft. Wer nach dieser Erkenntnis handelt, überwindet die Einsamkeit.

Wenn ich nun an dieser Stelle meine Überlegungen beschließe, behaupte ich nicht, alle Fragen, nicht einmal die meisten der Fragen, beantwortet zu haben. Eher haben sich noch viele weitere aufgetan. Diesen nachzugehen muß ein Projekt für die Zukunft sein: Wie steht es um die Willensfreiheit in Kulturen, die einen ganz anderen oder gar keinen Personenbegriff haben? Inwiefern ist die Unterscheidung zwischen funktionalen und personalen Interaktionen für die Klärung moralischer Fragen relevant? Was bedeutet die personale Liebe für die besondere Liebesbeziehung zweier Menschen, von denen man sagt, sie seien ein Paar?
Ich nehme mir als Person die Freiheit – scheinbar willkürlich und doch überlegt -, an dieser Stelle den Schlußakkord zu spielen, und lasse die Arbeit enden, wie sie begonnen hat: mit einem Gedicht.

Ich und Du

Wir träumten voneinander
Und sind davon erwacht,
Wir leben, um uns zu lieben,
Und sinken zurück in die Nacht.
Du tratst aus meinem Träume,
Aus Deinem trat ich hervor,
Wir sterben, wenn sich eines
Im andern ganz verlor.
Auf einer Lilie zittern
Zwei Tropfen, rein und rund,
Zerfließen in Eins und rollen
Hinab in des Kelches Grund.
(Friedrich Hebbel)

-> Literaturverzeichnis

Notes:

  1. Ich schreibe “vulgär”, da ich nicht weiß, ob man die Haltung des personal Liebenden nicht auch als “egoistisch” in einem gewissen Sinne bezeichnen muß. Doch wenn dem so ist, dann ist dies eine völlig andere Struktur des Egoismus als in der funktionalen Liebe: Die anderen sind für mich keine Objekte, sie sind Personen, so wie auch ich kein Objekt, sondern Person bin. Und ich kümmere mich um mich, um für die anderen eine Person sein zu können.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *