V.2 Subjektsprachliche Freiheit – Entscheidungsfreiheit

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V.2 Subjektsprachliche Freiheit – Entscheidungsfreiheit

V.2.1 Wir sind frei, weil wir sprechen

Eine ganz basale Begründung dieser Behauptung bedient sich Wittgensteins Privatsprachenarguments. Mit Wittgenstein nehmen wir an, daß es keine private Sprache geben kann, weil Bedeutung immer der Versicherung der anderen bedarf. Zu sagen, etwas bedürfe der Versicherung einer anderen Instanz, macht nur dann Sinn, wenn die Instanzen als von einander unabhängig angesehen werden. D.h., “ich” und “die anderen” und diese auch untereinander müssen als voneinander unabhängige Systeme betrachtet werden. Die Sprechenden müssen als unabhängig angenommen werden und sind in diesem Sinne frei. Wären sie es nicht, gäbe es keine Bedeutung. Oder drehen wir es um: Es gibt Bedeutung, darum sind sie unabhängig und in diesem Sinne frei.
Subjektsprachliche Interaktion produziert sozusagen Freiheit: Freiheit ist nicht etwas, das wir in der Natur, in der Welt dort draußen entdeckt haben oder entdecken könnten, sondern etwas, das durch das Sprechen und im Sprechen entsteht. Wir müssen die Mitsprechenden als frei erachten und uns selbst im Umkehrschluß ebenfalls, da wir für die Mitsprechenden Mitsprechende sind. Doch was heißt hier “frei”?
Bedeutungssicherung geschieht dadurch, daß beurteilt wird, ob etwas regelkonform ist oder nicht. Dieses Urteil muß der freien Entscheidung für eine der Alternativen “richtig” oder “falsch” unterliegen. Die Entscheidung zwischen diesen Alternativen unterscheidet sich erheblich von der Entscheidung zwischen Alternativen wie “schmeckt mir” und “schmeckt mir nicht”, die auch Tieren möglich ist, da letztere lediglich ein subjektive, erstere aber ein objektive, reflektierende Haltung erfordert. 1
Bei subjektiven Entscheidungen ist eine Frage nach Freiheit gar nicht zulässig; was wollte uns auch jemand mitteilen, der sagte: “Ich konnte völlig frei entscheiden, daß es mir schmeckt.”? Natürlich kann jemand behaupten, er sei gezwungen worden zu der Aussage, Coca Cola schmecke besser als Pepsi Cola, aber er kann nicht behaupten, er sei dazu gezwungen worden, daß ihm Coca Cola besser schmeckt. Bei objektiven Entscheidungen macht eine Frage nach Freiheit dagegen Sinn. Man kann fragen, ob jemand frei war in seiner Entscheidung, in dem Sinne, daß er in Ruhe und nach bestem Wissen entschieden hat und z.B. nicht von einer anderen Partei zu einer Entscheidung gedrängt wurde oder wegen einer Krankheit oder anderer Dinge seiner Fähigkeit zum klaren Denken beraubt war.
Der Sprechende ist genau dann frei in seiner Entscheidung, wenn er über die Alternativen reflektierend nachdenken kann und seine Überlegungen Einfluß nehmen läßt auf seine Entscheidung. Zu sagen, jemand fälle ein Urteil, ob richtig oder falsch, heißt zu sagen, jemand denke nach und komme darüber zu einer Entscheidung, daß richtig oder falsch. Jemand, der auf diese Weise Entscheidungen trifft, ist frei in seiner Entscheidung. Diese Art von Freiheit, die wir “Entscheidungsfreiheit” nennen wollen, ist genuin menschlich in dem Sinne, daß nur selbstreflektierende Wesen – also Personen – in ihren Genuß kommen können. Statt “Entscheidungsfreiheit” können wir auch “Willensfreiheit” sagen, da wir im Entscheidungsprozeß durch Überlegung Einfluß auf unsere Willensbildung nehmen.

V.2.2 Wir sind frei, weil wir Personen sind

Wenn wir als Person mit anderen Personen interagieren wollen, müssen wir unterstellen, daß sie frei sind. Oder anders ausgedrückt: Die Zuschreibung des Personenstatus impliziert die Zuschreibung von Freiheit. Dies kann man sich verdeutlichen, indem man sich personale Interaktionen vorstellt und festellt, daß sie nicht als solche verständlich sind, wenn man das Element der Freiheit davon abzieht.
Wenn wir in einem Bekleidungsgeschäft um den Preis einer Jacke mit leichten Mängeln feilschen wollen, müssen wir von unserem Feilschpartner, dem Verkäufer, annehmen, daß er die Freiheit der Entscheidung besitzt. Wüßten wir, daß seine Überlegungen keinen Einfluß auf sein Handeln haben, könnten wir nicht mit ihm feilschen. Wir könnten zwar Zahlen in den Raum werfen, doch die Reaktionen des Verkäufers wären unabhängig von seinem Verständnis der Situation. Er würde einfach unreflektiert das machen, worauf er gerade Lust hat, vielleicht sogar Zahlen nennen, doch der charakteristische Verlauf eines Feilschens wäre purer Zufall.
Oder sehen wir uns ein Beispiel von Wittgenstein an:

“Warum kann meine rechte Hand nicht meiner linken Geld schenken? – Meine rechte Hand kann es in meine linke geben. Meine recht Hand kann eine Schenkungsurkunde schreiben und meine linke eine Quittung. – Aber die weitern praktischen Folgen wären nicht die einer Schenkung. Wenn die linke Hand das Geld von der rechten genommen hat, etc., wird man fragen: »Nun, und was weiter?«” 2

Wir nennen einen Vorgang, bei dem Geld von der einen Hand in die andere gegeben wird, insofern beide Hände derselben Person gehören, keine Schenkung, da es hierbei keine zwei unabhängigen Instanzen gibt, die interagieren. Wir sagen von Händen nicht, sie seien willensfreie, rationale Wesen. Auch ein Hund, der immerhin Handlungsfreiheit besitzt, kann nichts schenken – weder einem anderen Hund, noch einer Person. Wenn wir einem Hund etwas schenken können, dann nur, indem wir das Tier personalisieren.
Eine Schenkung erfordert, wie jede personale Interaktion, echte Kommunikation im Sinne Grice’. Der Beschenkte muß die Schenkung, wenn man so will, beglaubigen. Um überhaupt schenken zu können – im Gegensatz zu “etwas geben” -, muß der Schenkende Gedanken über die Gedanken des anderen über seine Gedanken den Beschenkten betreffend haben. Der Schenkende muß glauben, daß der andere erkennt, daß jetzt das Sprachspiel des Schenkens gespielt wird. Personale Interaktion erfordert immer zwei Personen.
Stellen wir uns als letztes einen Bankräuber vor, der mit vorgehaltener Waffe die Herausgabe von Geld erzwingen will. Was in seiner Aufforderung “Schieb’ die Kohle rüber!” mitschwingt, ist: “Ich halte Sie für eine Person, also für ein rationales Wesen, das Entscheidungsfreiheit besitzt, was bedeutet, daß Sie Überlegungen anstellen können, die ihre Willensbildung beeinflussen, weswegen Sie die Erpressungssituation richtig einschätzen werden und nicht irgendwelche unüberlegten Dinge tun, sondern mir das Geld über den Tresen reichen.”
Wäre der Kassierer – aus welchem Grunde auch immer – nicht fähig, Überlegungen anzustellen oder seinen Überlegungen Einfluß zu gewähren auf seine Handlungen, wäre der Räuber nicht in der Lage, ihn zu erpressen. Er könnte den Kassierer womöglich durch Strafe und Belohnung abrichten und so dazu bringen, daß er, wann immer der Räuber die Pistole zieht, zum Geldschrank greift und einen Beutel mit Scheinen füllt. Doch würde man diesen Vorgang nicht mehr als eine Erpressung bezeichnen, sondern als ein Dressurkunststück.
Die Mitglieder des Personenclubs sind notwendig frei. Sie müssen sich gegenseitig als frei in ihren Entscheidungen erachten, um interagieren zu können. Die Fähigkeit der freien Entscheidung ist konstitutiv für personale Interaktion. Personale Interaktion ist real. Deswegen ist auch Willensfreiheit real.
Jemandem den Personenstatus zuzuschreiben heißt, ihn als rational Handelnden zu verstehen, heißt anzunehmen, daß er Überlegungen anstellen kann, die Einfluß auf sein Handeln haben. Und Überlegungen anstellen, die Einfluß haben auf das Handeln, also auf die Willensbildung, heißt, einen freien Willen zu haben. Das bedeutet, daß die Begriffe “Willensfreiheit” und “Person” miteinander verknüpft sind: Eine Person ist gerade ein System mit einem freien Willen.
Aus diesen Überlegungen kann man folgende Einsichten gewinnen: Erstens ist die Rationalität ausschlaggebend für die Freiheit des Willens, so daß umgekehrt die Irrationalität einer Handlung die Unfreiheit des Willens aufzeigt. Zweitens setzt Willensfreiheit Handlungsfreiheit offensichtlich nicht voraus. Man kann nämlich durchaus daran gehindert werden, eine Handlung auszuführen, obwohl der Wille, der der Handlung zugrunde liegt, durch Überlegung zustande gekommen ist. Und drittens besteht die Freiheit des Willens nicht in einer Unbedingtheit des Willens, sondern gerade in der Bedingtheit des Willens durch das Überlegen. Doch es ist die Bedingtheit in einer hermeneutischen Geschichte und nicht die Determiniertheit in einer analytisch-mechanistischen Geschichte.
Personal Interagierende haben notwendig einen freien Willen. Kann die Unterscheidung zwischen funktionaler und personaler Interaktion etwas zu unserem Verständnis von Willensfreiheit beitragen?

-> V.3

Notes:

  1. Vgl. die Ausführungen zu Taylors “Wertungen” in Kapitel IV.2.3.
  2. Wittgenstein PU §268.

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