V.3 Freiheit in der funktionalen und personalen Interaktion

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V.3 Freiheit in der funktionalen und personalen Interaktion

V.3.1 Freiheit von “flachen” und “tiefen” Personen

Wie wir gesehen haben, können Personen funktional und personal interagieren. Hauptsächlich funktional Interagierende habe ich als oberflächliche Personen oder “Utilitaristen” bezeichnet, hauptsächlich personal Interagierende als tiefe Personen. Da die Begriffe “Person” und “Willensfreiheit” miteinander verknüpft sind, steht zu erwarten, daß die unterschiedlichen Seinsweisen einer Person, die ich in horizontalen Metaphern beschrieben habe, Auswirkungen auf ihr Freisein haben.
Taylors Utilitaristen glauben, daß es keine personale Interaktion gibt und daß kein kategorialer Unterschied zwischen funktionaler und personaler, also vorsubjektsprachlicher und subjektsprachlicher Interaktion besteht. Ihre Welt ist tatsächlich ärmer als die der personal Interagierenden – und sie ist fühlbar ärmer. Eine diffuse Unzufriedenheit liefert den Grundklang ihres Leben, den sie versuchen, durch weitere funktionale Handlungen zu übertönen. Doch sie haben Wünsche – Sehnsucht nach Liebe und Abwesenheit von Einsamkeit -, die nur die personale Interaktion befriedigen kann. So bekämpfen sie die Symptome ihrer Unzufriedenheit und nicht die Ursache. Ihr Weltbild hat nämlich die Annahme einer unüberwindbaren Einsamkeit zur Folge, deren Erfahren sie zu verdrängen suchen, nicht erkennend, daß ihnen wie Sisyphos der Stein immer wieder den Berg der Zufriedenheit hinunter rollt. 1
Da das, was wir über die Welt glauben, unser emotionales Sein in der Welt bestimmt, bringt eine Veränderung des Weltbildes auch eine Veränderung des emotionalen Seins mit sich. D.h., eine erfolgreiche Behandlung, die Beseitigung der Unzufriedenheit, ist möglich, indem das Weltbild verändert wird. Im Gegensatz zum Wanton, von dem Frankfurt sagt, daß er seine Willensfreiheit verpaßt, und von dem ich sage, daß er nur selten von ihr Gebrauch macht, macht der Utilitarist von ihr Gebrauch; doch fischt er nur in flachen Gewässern und folgert irrtümlich, das ganze Meer sei so seicht. Die Freiheit des Utilitaristen ist eine seichte, so wie auch seinem Personsein die Tiefe fehlt. Die Unzufriedenheit des Utilitaristen läßt sich auch als Gefühl der Unfreiheit beschreiben, das er aber nur haben kann, weil er sich am Spiel “Willensfreiheit” beteiligt.
Der Wanton nimmt selten an diesem Spiel teil und kennt dieses Gefühl der Unfreiheit kaum. Somit ist er vielleicht zufriedener als der Utilitarist – allerdings auf dem Niveau eines Tieres. Diese einfache Form von Zufriedenheit scheinen mir Lehren im Auge zu haben, die nach Schlachtrufen wie “Denke nicht, sei!” oder “Lebe nur im Augenblick!” ausgerichtet sind. Das Sich-treiben-Lassen auf dem Corso, 2 das Aufgehen in der Masse beim Stadionbesuch, das Unterordnen unter einen Führer sind Beispiele für angenehme Erlebnisse eines Menschen, der zeitweilig die Last, Entscheidungen treffen zu müssen und Person zu sein, abgegeben hat. Doch dieser Mensch, ein part-time-Wanton, verzichtet auch auf seine Entscheidungsfreiheit und damit auf einen großen Teil dessen, was ihn als Person kennzeichnet. Er verzichtet, zumindest für den Moment, auf eine reichere, komplexere Erlebenswelt.

V.3.2 Freiheit in der Interaktion

Statt zu sagen, eine Person sei frei in ihren Entscheidungen, kann man auch sagen, sie sei verantwortlich für ihr Tun. Freiheit und Verantwortlichkeit bedingen sich gegenseitig – sie sind begrifflich miteinander verknüpft: Wenn Du mich verantwortlich machst für mein Tun, hältst Du mich für frei; wenn Du mich für frei in meinen Ent- scheidungen hältst, machst Du mich verantwortlich für mein Tun. D.h., die ganze Praxis der Rechtssprechung, des Vorwerfens und der Verurteilung, aber auch die Praxis des Lobens hängen von der Zuschreibung und Nicht-Zuschreibung der Willensfreiheit ab, da nur derjenige sinnvollerweise zur Verantwortung gezogen wird, der verantwortlich gemacht werden kann.
Mit Strawson haben wir gesehen, daß wir anderen gegenüber jederzeit eine objektive Haltung einnehmen können. Aus dieser Haltung heraus erfolgt eine funktionale Interaktion. Wir nehmen den anderen dann weniger als Person wahr als in seiner Funktion, d.h., wir können ihm seine Willensfreiheit weitgehend absprechen, indem wir ihn immer weiter in die Nähe eines funktionalen Objekts rücken. Je mehr ich meinen Gegenüber dabei zum Wanton mache, desto weniger Willensfreiheit gestehe ich ihm zu. Ist er ein Wanton, dann ist er an der Grenze zum Tier. Eine derartige Haltung mag man sehr kleinen Kindern, stark betrunkenen oder extrem geistig behinderten Personen gegenüber einnehmen. Diese Menschen macht man dann nicht oder nur eingeschränkt verantwortlich für ihre Handlungen. Doch durch diese Haltung macht man auch etwas mit sich. Indem man sich auf eine bestimmte Art von Interaktion festlegt, fixiert man die Rolle des anderen und seine eigene. Wenn man mit allen Menschen so umgeht, als seien sie kleine Kinder, wird man selbst eine sehr oberflächliche Person.
Wenn mir jemand auf den Fuß tritt, und ich das nicht als Beleidigung werte und zusätzlich die Entschuldigung nicht in der Situation, sondern in seiner Person suche, dann bedeutet das, daß ich den Treter weniger verantwortlich machen möchte für die Tat, als man es normalerweise machen würde. Dadurch verringert sich die Willensfreiheit, die ich ihm zuschreibe. Zwar bin ich dadurch vor Beleidigungen geschützt, doch andererseits verarmt meine eigene Welt. Ich kann nun selbst nur noch im Seichten fischen. Menschen, die starke seelische Verletzungen davon getragen haben, neigen dazu, sich auf diese Weise vor der Außenwelt zu schützen, wodurch sie auf die Dauer zu flachen Personen werden. Das heißt auch, daß man seinen Interaktionspartner, will man ihn ernst nehmen, für sein Tun verantwortlich machen muß. Es ist eine falsch verstandene Liebe, wenn man meint, für das Handeln des anderen immer Entschuldigungen suchen zu müssen. Aus einer derartigen Haltung kann nur eine funktionale Beziehung erwachsen.
Im “Club der Personen” sind wir in der Regel alle mal Utilitarist, Wanton und personal Interagierender. Dabei bestimmt die Art der Interaktion immer die Rollen beider Interaktionspartner. Die Interaktion verläuft gut, d.h. die Kommunikation funktioniert reibungslos, wenn die Einschätzung der Art der Interaktion und der Rollenver- teilung auf beiden Seiten gleich ist. Sie verläuft nicht gut, wenn der eine Interaktionspartner die Interaktion als funktional und der andere sie als personal einstuft. Wenn sie nur unverbindlichen Sex will, während er glaubt, es ginge um die große Liebe, droht ein Unglück; während, wenn beide utilitaristisch denken, eine zwar oberflächliche, aber potentiell vergnügliche Nacht bevorsteht.
Doch das ist nicht alles. Denn indem man interagiert, macht man, wie gesagt, auch etwas mit sich. Man verändert seine Personengeschichte. Viele oberflächliche Nächte können eine oberflächliche Person ergeben.
Damit ist nicht gemeint, daß funktionales Handeln moralisch schlecht und personales Handeln per se gut ist. Es gibt viele Situationen, in denen die eine Art unangebracht oder sogar schädlich ist. Es ist schädlich, wenn ich einen wantonhaften Drogenabhängigen zu meinem besten Freund mache und ihm ständig personal begegne. Und es ist unangebracht, hauptsächlich personal zu handeln auf Gebieten mit hierarchischen Strukturen, wie bei den Konstellationen Schüler/Lehrer oder Vorgesetzter/Untergebener. Diese Beziehungen sind von einer Abhängigkeit gekennzeichnet, die funktional ist, während eine personale Interaktion Unabhängigkeit und gleiche Augenhöhe verlangt. Sicherlich sind Errungenschaften personaler Interaktion wie Höflichkeit, Rücksichtnahme und angenehme Umgangsformen auch hier gefragt – und können auch von Herzen kommen -, doch sollte man dem Chef, der zum Diktat ruft, nicht vorwerfen, daß er damit eine funktionale Interaktion installiert: “Ich bin für Sie nur ein hübsches Diktiergerät; Sie interessieren sich überhaupt nicht für meine inneren Werte!” 3
Wenn wir “Handeln” verstehen als “subjektsprachliches Handeln”, dann ist der Wanton jemand, der fast gar nicht handelt, der Utilitarist jemand, der hauptsächlich funktional, und der personal Interagierende jemand, der vor allem personal handelt. Mit der objektiven Haltung Strawsons kann man den Interaktionspartner in die Nähe des Wanton rücken, wodurch man selbst zum funktional Handelnden oder im Extremfall zum nicht mehr Handelnden wird, da die Art der Interaktion die Art der Handlung bestimmt. Wenn ich jemanden als Utilitaristen einschätze und deswegen nur funktionalen Umgang mit ihm pflege, werde ich diese Episoden in meine Personengeschichte mit aufnehmen – oder mein Handeln wird mir fremd bleiben. Dann drohe ich eine inkohärente oder gespaltene Person zu werden.
Im funktionierenden Umgang mit einem Wanton bin ich selbst ein Wanton und erlebe keine Willensfreiheit. Im funktionierenden Umgang mit einem Utilitaristen bin ich selbst ein Utilitarist und erlebe nur eine ärmliche Form der Willensfreiheit. Nur im funktionierenden Umgang mit dem personal Interagierenden erlebe ich die reichste Form der Willensfreiheit. Nicht funktionierende Interaktion wird dagegen auf Dauer meine Person schädigen.

Ich habe bisher festgestellt, daß Willensfreiheit real ist, daß Personen notwendigerweise Willensfreiheit besitzen und daß diese sie jedoch je nach Art ihres Charakters, der dadurch gekennzeichnet ist, daß sie eher funktional oder eher personal Interagierende sind, unterschiedlich tiefgehend nutzen. Somit habe ich gewissermaßen das Spielfeld der Freiheit abgemessen und skizziert, das das Erleben von Freiheit und Unfreiheit zuallererst ermöglicht. Damit ist längst nicht alles über das Erleben von Freiheit und von Unfreiheit gesagt.

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Notes:

  1. Für eine ausführlichere Begründung siehe Kapitel VI.
  2. Vgl. Bieri (2001) S. 84-91. Bieris “Getriebener” ist eine leicht abgewandelte Form von Frankfurts “Wanton”.
  3. Es wird deutlich, daß es einen engen Zusammenhang gibt zwischen personalem und moralischem Verhalten, und sicherlich wäre es interessant, diesen Zusammenhang genauer herauszuarbeiten. Dies kann aber in dieser Arbeit nicht geleistet werden.

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