V. WILLENSFREIHEIT

<- IV.3

V. WILLENSFREIHEIT

V.1 Vorsubjektsprachliche Freiheit – geliehene Handlungsfreiheit

“Freiheit” ist ein Begriff, und ein Begriff ist ein subjektsprachlicher Gegenstand. Nicht-subjektsprachfähige Wesen kennen keine Begriffe, weswegen sie auch nicht den Begriff “Freiheit” kennen können. Kennen sie aber Freiheit?
Während ich hier sitze und an diesem Text schreibe, krabbelt der Wein neben meinem Balkon die Wand hoch. Seit ich schreibe, schaue ich jeden Tag nach, wie weit er schon gekommen ist. Er kämpft sich enorm schnell voran. Wenn ich allerdings hinsehe, macht er immer gerade eine Pause. Es ist faszinierend seinen Weg zu verfolgen. Warum kriecht er ausgerechnet da hin und nicht dort hin? Manche Triebe rennen steil nach oben, dem Himmel zu, andere laufen parallel zur Dachrinne. Steckt System dahinter, Überlegung? Hat er einen eigenen Willen, mein Wein? Ist er frei?
Wir haben gesehen, daß Freiheit etwas mit Wünschen, Wollen und Handeln zu tun hat. Ein Wille ist ein handlungswirksamer Wunsch, und wer tun kann, was er will, kann frei handeln oder: hat Handlungsfreiheit. Wenn wir einen Vorgang als ein Handeln beschreiben, schreiben wir dem Handelnden gleichzeitig einen Willen zu. Den Hund, der den Stock apportiert, verstehen wir als Handelnden und sagen von ihm, er habe einen Willen, obwohl er sich nicht selbst als frei Handelnden beschreiben kann – und das nicht, weil ihm gerade die passenden Worte nicht einfielen oder er nicht unsere Sprache, dafür aber eine andere, die wir eben nicht verstehen, spräche, sondern weil das zu einem Kosmos gehört, der für ihn nicht existiert. Daß er ein frei Handelnder sein kann, verdankt er uns, die wir diese Zuschreibungen machen. Da wir durch diese Zuschreibungen auf eine Weise mit Tieren interagieren können, wie wir es ohne die Zuschreibungen nicht könnten, da es also nützlich ist, so zu reden, ist es auch sinnvoll, derartige Zuschreibungen zu machen und Tiere als intentionale Systeme anzusehen. 1
Mein Wein wird nicht als intentionales System betrachtet. Es wäre nicht wirklich nützlich, dies zu tun. Doch wären seine Bewegungen in einer von uns wahrnehmbaren Geschwindigkeit, würden wir wohl tatsächlich anders von ihm sprechen. Vielleicht würde er auch einen Stock apportieren können.
Ohne Sprechende gäbe es keine Freiheit in der Welt. Tiere sind nicht notwendig frei. Das kann man eben auch daran festmachen, daß sich bei der Zuschreibung eines Willens bei Tieren eine gewisse Willkür feststellen läßt: Hund und Katze sind frei, Made und Fliege weniger, Amöbe und Seeanemone gar nicht? Existierte niemand, der Zuschreibungen machte, wäre vielmehr die Annahme der Freiheit von Tieren sinnlos. Oder würden wir uns darüber einigen, die Bewegungen eines Tieres nicht mehr als Ausdruck seines Willens zu sehen, sondern als Produkt eines mechanischen Reiz-Reaktions-Systems, würden wir auch nicht mehr davon reden, daß Tiere frei oder unfrei sein können. Es ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich, daß dies eines Tages geschieht.
Es ist dagegen unmöglich, daß wir uns eines Tages darüber einigen, unsere Bewegungen nicht mehr als Ausdruck eines Willens zu sehen. Denn die Einigung könnte nur stattfinden als sprachliche Vereinbarung, die nur funktioniert, wenn wir uns gegenseitig als Handelnde verstehen. Verstehe ich den anderen nicht als Handelnden, gehört er für mich ontologisch in die selbe Kategorie wie ein Toilettenhäuschen. Und mit einem Toilettenhäuschen kann ich keine Vereinbarung treffen – es sei denn, ich bin nicht mehr bei Sinnen. Doch selbst dann muß ich das Häuschen als Handelnden wahrnehmen, um selbst interagieren zu können, und muß ihm somit einen Willen zuschreiben. Nach meinen Maßstäben bleibe ich folglich rational.
Einmal mehr ist der Grund dafür, daß es sich um begriffliche Zusammenhänge handelt, nicht um empirische. Natürlich wäre es theoretisch möglich, daß wir aufgrund einer Naturkatastrophe oder einer Atombombenexplosion alle unseres Sprachzentrums beraubt würden und uns so auf das Niveau von Tieren zurückgeworfen fänden. Doch kann man das schlecht als eine gemeinsame Einigung verstehen.
Tiere haben ihre Freiheit nur geliehen, sie sind nicht notwenig frei – wir schon. Wir sind frei, weil wir sprechen.

-> V.2

Notes:

  1. Vgl. Dennett (1997).

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