IV.3 Der Club der Personen – Realität des Personseins

IV.3 Der Club der Personen – Realität des Personseins

IV.3.1 Der Einwand des Utilitaristen

Taylors Utilitarist würde dem Vorwurf, er sei ein oberflächlicher Charakter, vermutlich heftig widersprechen oder zumindest behaupten, daß dann alle Menschen oberflächliche Charaktere seien. Er könnte einwenden, daß die Unterscheidung zwischen tief und flach viel zu schwammig sei, um irgendetwas auszusagen, ja, daß sie im Grunde eine Chimäre sei, da letztlich jede angeblich personale Handlung auf eine funktionale Handlung reduziert werden könne, so daß man in einer Gefühlsduselei annehmen mag, man täte etwas aus hehren Motiven. Tatsächlich kämen bei genauer Analyse jedoch immer ganz banale Nützlichkeitsüberlegungen zum Vorschein. Dies ist der Vorwurf, echte personale Interaktion sei eine Illusion bzw. jede starke Wertung lasse sich umformulieren in eine schwache Wertung. Der Utilitarist könnte das Beispiel des hupenden Nachbarn anführen:
«Der Gruß des Nachbarn läßt sich nur verstehen, wenn er damit etwas bezweckt. Würde er nichts damit bezwecken, wäre die Handlung sinnlos und nicht als solche zu verstehen. Sein Ziel muß nicht so klar formulierbar sein wie: “Ich möchte zur nächsten Gartenparty eingeladen werden!” Vielleicht ist es nur eine Reaktion auf einen vorangegangenen Gruß oder ein Ausdruck von Freundlichkeit, der sagt: “Ich bin ein freundlicher Mensch!” Doch die Annahme, dies würde ohne Hintergedanken, ohne Nützlichkeitserwägung passieren, ist naiv. Wenn sich jemand als freundlicher Mensch präsentiert, will er doch nur in den Genuß der Vorteile kommen, die freundlichen Menschen zuteil werden. Es geht einem Menschen letztlich immer um die Ergebnisse und nie um die Motivation. Selbst wenn ein Mensch sich überlegt, daß dieses oder jenes Motiv edler ist als ein anderes, und er sich für eine Handlung entscheidet aufgrund der Angesehenheit des Motivs – sagen wir, er hilft einem Blinden über die Straße -, tut er es nicht einfach, weil das Motiv edel ist, sondern weil er hofft, für die Tat gelobt zu werden. Und gibt es keine Zuschauer, so lobt er sich selbst: “Was bin ich doch für ein guter Mensch!” Personales Handeln ist immer mehr oder weniger gut kaschiertes funktionales Handeln. Derjenige, der diesen Sachverhalt klar durchschaut, wird von Charles Taylor und J.L. als “oberflächlich” diffamiert, dabei ist die behauptete Tiefe lediglich eine Blindheit gegenüber den Fakten.»
Weiter oben bin ich diesem Vorwurf schon einmal begegnet mit dem Hinweis, daß die Interpretation einer vorgeblich personalen Handlung als funktional parasitär ist gegenüber ihrer Interpretation als personal. Denn wir können nur deswegen den Gruß des Nachbarn als in Wirklichkeit ergebnisorientiert entlarven, weil er auch aus echter Sympathie heraus zustande gekommen sein kann. Nun würde der Utilitarist antworten, daß das eben die Illusion ist, daß es “echte” Sympathie geben könne, wenn “echt” heißen soll, daß es eine Sympathie ist, die unabhängig von Nützlichkeitsüberlegungen existiert. Für den Utilitaristen ist der andere nur ein Objekt, um seine eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können. Er muß so argumentieren, als gäbe es zwar ihn als Subjekt, die anderen aber nur als Objekte. So übersieht er, daß er als Person nur durch andere Personen existiert, daß somit die personale Interaktion konstitutiv für ihn selbst ist. Er kann nur dank personaler Interaktion überhaupt die Behauptung aufstellen, es gäbe keine personale Interaktion. Die Blindheit gegenüber den Fakten liegt somit beim Utilitaristen.
Die entscheidende Einsicht, die dem Utilitaristen fehlt, ist, daß wir als Personen auf eine kategorial andere Weise miteinander verbunden sind als Nicht-Personen. Auf diese Verbundenheit möchte ich im folgenden genauer eingehen.

IV.3.2 Zurückweisung I des Einwands: Begriffliche vs. empirische Verbundenheit

Denken wir uns eine Situation, in der eine Verbundenheit zweier Menschen ausgedrückt wird durch den Satz: “Indem ich Dich beschädige, beschädige ich mich.” Wenn wir nun zeigen können, daß es eine funktionale und eine personale Lesart des Satzes gibt, die voneinander nicht nur graduell, sondern kategorial verschieden sind, dann ist der Utilitarist widerlegt. 1
Wenn wir den Satz als funktional auffassen wollen, dann könnte die Situation, in der er gefallen ist, so aussehen: Zwei Kriminelle haben zusammen eine Bank ausgeraubt, und der eine fragt den anderen später, warum er ihn nicht bei der Polizei angezeigt habe. Dessen Antwort lautet: “Indem ich Dich beschädige, beschädige ich mich.” Oder in der Sprache der Ganoven: “Wenn ich Dich bei den Bullen verpfeife, wandere ich gleich mit in den Knast.”
Auch diese Situation ist denkbar: Indiana Jones hat die Möglichkeit, seinen Verfolger aufzuhalten, indem er ein Seil durchtrennt, das ein 16-Tonnen-Gewicht vor dem Fall aus großer Höhe bewahrt, just in dem Moment, als der Bösewicht unter dem Koloß durchläuft. Da Jones diese Gelegenheit verstreichen läßt, holt ihn der Verfolger ein und fragt ihn, warum er schließlich doch davon Abstand genommen habe, das Seil zu kappen. “Indem ich Dich beschädige, beschädige ich mich”, ist seine Antwort, was meint: “Wenn ich dieses Seil durchschneide, fällt das 16-Tonnen-Gewicht auf uns beide drauf, da sich die Stelle, an der ich das Seil hätte durchtrennen können, genau unter dem Gewicht befindet.”
Der Aufenthalt im Gefängnis oder unter dem Gewicht ist unangenehm, deswegen verzichten die Protagonisten darauf, dem Gegenüber Schaden zuzufügen. Das Gefühl, das sich beim Gegenüber einstellt, ist: Du bist dort, und ich bin hier, und wir haben persönlich nichts miteinander zu tun. Der Umstand, daß Du beschädigt wirst, wenn Du mich beschädigst, ist kontingent und nicht notwendig. Wäre die Situation anders, könntest Du mich anzeigen, ohne selbst verhaftet zu werden, oder Du könntest mich unter dem Gewicht begraben, ohne selbst Schaden zu nehmen.
Denken wir uns nun eine dritte Situation: Die beiden Bankräuber haben zwei Geiseln genommen und fliehen in einem Auto. An einer Tankstelle hat die eine Geisel die Möglichkeit zur Flucht. Von der anderen Geisel darauf angesprochen, warum sie diese Chance verstreichen ließ, antwortet sie: “Indem ich Dich beschädige, beschädige ich mich.” Sie meint damit nicht, daß sie dadurch körperlichen Schaden genommen hätte, sondern daß sie sich als Person beschädigt gesehen hätte, wenn sie die Schicksalsgenossin im Stich gelassen hätte. Indem sie sich und die andere Geisel als Person wahrnimmt, indem sie personal handelt, sind die beiden nicht empirisch-kontingent sondern begrifflich-notwendig miteinander verbunden. In der personalen Lesart des Satzes geht es um sie in einer ganz anderen Weise als in der funktionalen Lesart. Zusätzlich ist ihr „Zusammen“ ein völlig anderes. Das Gefühl, das sich bei beiden einstellt, ist: Wir haben etwas gemeinsam, wir sind gemeinsam Teil von etwas Größerem. Dieses Größere ist der “Club der Personen”. Der Satz „Indem ich Dich als Person mißachte und dadurch beschädige, beschädige ich auch mich als Person“ kann nicht funktional sein.

IV.3.3 Die Gemeinschaft des Personenclubs

Wenn wir sagen, Menschen tun sich zusammen, weil sie gemeinsamen Interessen folgen wollen, habe wir eine kurze und hinreichende Definition von „Club“. Insofern können Hobbyfußballer, die sich einmal in der Woche zum Kicken im Park treffen, genauso als Club gelten wie ein eingetragener Verein.
Dabei gibt es zwei wichtige Unterschiede zwischen den beiden Clubformen. Der offizielle Verein hat erstens eine Satzung, die das Miteinander im Verein durch Gesetze regelt. Diese Form von Gesetzen ist funktional, wie alle Vorschriften und Handlungsanweisungen funktional sind. 2 Zweitens wacht über die Einhaltung der Regeln des Fußballspiels beim Aufeinandertreffen zweier Mannschaften ein Schiedsrichter, da die Mitglieder der Vereine immer wieder versuchen, die Regeln zu ihren Gunsten zu brechen. Gäbe es niemanden, der die Einhaltung der Regeln überwachte, würde das gesamte System zusammenbrechen.
Ganz anders liegt der Fall bei den Hobbyfußballern. Ihr einziges Interesse sei, gemeinsam Spaß zu haben. Ihr Spaßhaben hängt notwendig ab von den anderen. Es braucht keine Satzung, sondern nur die personalen Regeln des sozialen Umgangs. Die funktionalen Regeln des Fußballspiels werden anerkannt, weil es ohne Regeln kein Spiel wäre, und eingehalten, weil ein Verstoß den Spaß und somit den Sinn des Ganzen zerstörte und nicht etwa weil jemand darüber wachte und bei Nichteinhaltung der Regeln (funktionale) Sanktionen drohten. Wenn ich gegen die Regeln verstieße, würde ich damit das Spiel und somit den Spaß und als Spaßhabenwollender somit mich selbst und alle Mitspielenden beschädigen.
Zum Mitglied des Hobbyfußballerclubs wird man, weil man auf bestimmte Weise mit anderen interagieren will. Man kann sich nicht selbst zum Mitglied machen, sondern ist dabei auf die anderen angewiesen. Man kann keinen Ausweis vorzeigen und damit seine Mitgliedschaft beweisen, falls die anderen einem den Status des Mitglieds absprechen wollen, wie es beim offiziellen Verein der Fall ist. Dieselbe Struktur liegt beim Club der Personen vor. Zum Mitglied des Personenclubs wird man, weil man auf bestimmte Weise mit anderen interagieren will. Man kann sich aber nicht selbst zum Mitglied machen, sondern ist dabei auf die anderen angewiesen. Man kann keinen Ausweis vorzeigen und damit seine Mitgliedschaft beweisen, falls die anderen einem den Status des Mitglieds absprechen wollen. Ich bin Person nur dank der anderen Personen und sie dank mir. Verstoße ich gegen personale Regeln, schade ich der Idee des Personseins, den anderen und mir selbst – notwendigerweise. Es gibt keine Möglichkeit, einer Person zu schaden, ohne daß man selbst als Person Schaden nimmt.
Man darf diese Analogie wohl nicht zu sehr strapazieren, da der Hobbyfußballerclub dem Personenclub nur deswegen so ähnlich ist, weil er eben ein Club ist, der den Personenstatus der Mitglieder betont. Er ist somit ein Personenclub. Doch im Kontrast zum offiziellen Verein wird dieser wichtige Punkt klar: Die Clubs der Hobbyfußballer und der Personen sind selbstregulierende Systeme, deren Interaktionsregeln eben nicht von außen gesetzt und überwacht werden zu einem davon unabhängigen Zwecke. Sie sind vielmehr ungelenkt entstanden in einer kulturellen Evolution, sind verinnerlicht und werden befolgt um des Befolgens willen. Das Gute oder der Gewinn liegt schon in der Interaktion, im gemeinsamen Tun, und benötigt kein äußeres Ziel wie den Gewinn der Meisterschaft.

Mit Frankfurt haben wir nun Personen von Nicht-Personen unterschieden und mit Taylor tiefe Personen von flachen Personen. Dem ersten Fall entspricht meine alte Unterscheidung zwischen funktionaler und personaler Interaktion, dem zweiten Fall meine neue Unterscheidung zwischen funktionaler und personaler Interaktion. Schließlich konnte ich den Utilitaristen widerlegen, indem ich zeigte, daß der Unterschied zwischen funktionaler und personaler Interaktion kategorial und nicht graduell ist, da personal Interagierende begrifflich-notwendig verbunden sind, während das Miteinander von Nicht-Personen lediglich empirisch-kontingent ist. Hier müssen wir kurz innehalten und etwas Wichtiges bemerken: Ich wollte zeigen, daß der Unterschied zwischen funktionaler und personaler (kursiv!) Interaktion kategorial ist, und habe gezeigt, daß der Unterschied zwischen funktionaler und personaler Interaktion kategorial ist. Doch dies drückt genau den Irrtum des Utilitaristen aus, wie das nächste Kapitel zeigt.

IV.3.4 Kategorialer oder gradueller Unterschied

Die Beispiele mit den Bankräubern, Indiana Jones und den Geiseln sind aus dem Blickwinkel des Utilitaristen konstruiert, so konnte der Eindruck entstehen, als wäre ich meiner eigenen Argumentation untreu. Ich habe nämlich behauptet, daß es zwei kategorial unterschiedliche Interpretationsarten des Satzes “Indem ich Dich beschädige, beschädige ich mich” gibt: eine funktionale und eine personale. Gleichzeitig habe ich vorgeschlagen, daß jedes subjektsprachfähige System eine Person ist. Da Sätze subjektsprachliche Gebilde sind, muß der zitierte Satz ein Satz sein, der von einer Person geäußert wird und an eine Person gerichtet ist. Der Utilitarist, der behauptet, es gäbe keine personale Interaktion, erkennt genau das nicht: daß nämlich subjektsprachliche funktionale Interaktion immer auch personal ist. Das heißt aber, daß der Unterschied zwischen funktional und personal aus der Perspektive meiner Argumentation nur graduell ist, da die Haltung des Handelnden seinem Interaktionspartner gegenüber mal mehr funktional mal mehr personal ist, aber immer von beidem hat. Er ist nur dann kategorial, wenn wir vergessen – wie es der Utilitarist tut -, daß wir es mit Personen zu tun haben. Der eigentliche kategoriale Unterschied liegt zwischen vorsubjektsprachlicher und subjektsprachlicher Interaktion, also funktionaler und personaler Interaktion in meiner alten Verwendungsweise der Begriffe. Insofern sind die beiden Bankräuber aus meinem obigen Beispiel dadurch, daß sie miteinander sprechen, nicht nur kontingenterweise, sondern auch begrifflicherweise,
also personal miteinander verbunden. Doch im Gegensatz zu den beiden Geiseln, die sich nicht im Stich lassen wollen, ist ihr personales Seil sehr dünn, geradezu wantonhaft. Daß es aber vorhanden ist, zeigt auch das Faktum, daß der den Kollegen verpfeifende Räuber unabhängig davon, ob er ebenfalls verhaftet wird, durch den Verrat, der ja eine funktionale Handlung ist, notwendig eine Schädigung erfährt – nämlich der eigenen Person.
Die Frage ist: Wollen wir einen Utilitaristen als kategorial andere Person sehen als einen zum Großteil personal Interagierenden? Ist er lobotomiert, ist sein Zentrum für starke Wertungen von Wünschen zweiter Ordnung defekt? Dann – so müßte man konstatieren – gäben wir ihn als unheilbaren Fall auf – so wie er uns im Grunde nicht nur für Träumer, sondern für Wahnsinnige halten muß, da wir ungesund viel in unsere interpersonalen Beziehungen investieren, da wir unser ganzes Glück von ihnen abhängig machen. Oder wollen wir nachsichtig (und vielleicht etwas herablassend) annehmen, der Utilitarist sei wie ein im Dunkeln Tappender, der glaubt, das sei der Normalzustand und die anderen, die ihm vom Licht zurufen, seien Wahnsinnige; ein Tappender, der aber immer die Möglichkeit hat, seinen Irrtum noch – buchstäblich – einzusehen? Ich denke, die Erfahrung zeigt, daß wir in der Regel letzteres annehmen.
Wenn der Held einer Erzählung eine gravierende Wandlung erfährt, ist es oft genau die vom funktional zum personal Handelnden, vom Egoisten zum geläuterten Verfechter der Nächstenliebe. 3 Der Protagonist solcher Geschichten ist oft ein liebloser, zu viel Geld gekommener, über Leichen gehender Karrierist, der droht, in Einsamkeit zu sterben, weil er immer nur funktional und nie personal gehandelt hat. Thematisiert wird der Unterschied von funktionaler und personaler Interaktion ganz deutlich in den Filmen “Citizen Kane” von Orson Welles oder “The Game” von David Fincher. Während jedoch Charles Foster Kane einsam mit seinem letzten Wort “Rosebud” sein Leben aushaucht, wird der zwar angstvoll geachtete, aber ungeliebte Millionär in “The Game” durch die Geschehnisse, die von seinem Bruder gesteuert werden, vom funktional zum personal Interagierenden und somit zur liebenden und geliebten Person.
Der Irrtum, den die Utilitaristen, Egoisten, kurz: die rein funktional Interagierenden begehen, ist immer der gleiche: Sie sehen nicht, daß sie nur sind aufgrund der anderen. Sie sind blind für dieses Faktum oder verdrängen es, obwohl sie es wissen könnten, da sie oft wider ihre Überzeugung handeln müssen aus Gefühlen heraus, die sie nur haben können, weil sie Personen sind. Damit komme ich zu einer anderen Möglichkeit, den Utilitaristen ihren Irrtum aufzuzeigen.

IV.3.5 Zurückweisung II des Einwands: Subjekt-bezogene Gefühle

Wie schon weiter oben dargelegt, gibt es Gefühle, die gebunden sind an subjektsprachliches Vermögen. Dazu gehören Scham, Reue, Stolz, Beleidigtsein, Dankbarkeit etc. Wenn also jemand Scham empfinden kann, heißt das, daß er personal interagieren kann.
Der Utilitarist könnte nur zwei Dinge machen, um seine Position zu retten. Entweder müßte er leugnen, daß er Schamgefühle kennt, oder er müßte die komplette Argumentation zurückweisen. Es würde nicht ausreichen, daß er zwar zugibt, Schamgefühle zu kennen, sie aber als unpassend bezeichnet, da er personale Interaktion für eine Illusion hält. Das liegt daran, daß wir es hier mit keiner empirischen, sondern einer begrifflichen Frage zu tun haben. Er müßte behaupten, daß es für uns eine Wahrheit jenseits von Erleben und Sprache geben kann, daß wir zwar etwas fühlen mögen, daß dieser Umstand jedoch nicht notwendigerweise etwas mit der realen Welt zu tun hat. Er müßte annehmen, daß Erleben, Sprache und Welt unverbunden nebeneinander stehen und die Wahrheit auf der Seite der Welt zu finden sei. Doch wie ich gezeigt habe, ist eine solche Behauptung wenig überzeugend, wenn überhaupt verstehbar.
Wenn der Utilitarist darauf besteht, er kenne die Gefühle Scham, Reue, Stolz, Dankbarkeit nicht, würden wir ihm entweder nicht glauben oder ihm raten, sich ärztlich untersuchen zu lassen. Auf jeden Fall wäre an dieser Stelle eine Diskussion beendet, da es keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr gäbe. Man könnte ihm aber zum Abschied noch die Frage mit auf den Weg geben, ob es für einen überzeugten Utilitaristen überhaupt möglich ist, konsequent nach seiner Theorie zu leben. Peter Strawson bezweifelt dies:

“Das menschliche Festgelegtsein auf das Teilnehmen an gewöhnlichen Beziehungen zwischen Personen ist, glaube ich, zu durchgehend und hat zu tiefe Wurzeln, als daß wir den Gedanken ernstnehmen könnten, eine allgemeine theoretische Überzeugung könnte unsere Welt so verändern, daß es in ihr nicht länger solche Dinge wie interpersonale Beziehungen gäbe, wie wir sie normalerweise verstehen […]. Eine ununterbrochene Objektivität der interpersonalen Haltung und die menschliche Isolation, die daraus folgen würde, scheint nicht etwas zu sein, dessen menschliche Wesen fähig wären, selbst wenn eine allgemeine Wahrheit einen theoretischen Grund dafür abgäbe.” 4

Nun kann es keine allgemeine Wahrheit geben, die unabhängig ist von unserem Handeln und Sprechen. Doch angenommen, jemand ist davon überzeugt, daß es sie gibt, dann kann er auch nach einer Theorie leben, die nahelegt, auf personale Interaktion zu verzichten, solange er sich nicht bewußt macht, daß er seine objektive Haltung nur innerhalb einer interpersonalen Beziehung einnehmen kann, daß er nur als Person sprechen kann, daß er subjekt-bezogene Gefühle nur als Person haben kann, daß er als funktional handelndes Subjekt immer im Bereich der Personalität agiert. “Zu verzichten” heißt dann einfach zu vergessen oder zu leugnen, daß man personal interagiert, denn der wahre Verzicht würde bedeuten, daß man nur noch vorsubjektsprachlich funktional interagiert.
Das Paradigma eines konsequenten Utilitaristen wäre somit die Figur des “Themroc” aus dem gleichnamigen Film von Claude Farraldo, der aufhört zu sprechen und sich nur noch durch Grölen und Grunzen artikuliert, der die Außenwand seiner Wohnung einreißt und fortan wie in einer Höhle lebt; kurz: der seine Personalität ablegt und zum Tier wird. Der inkonsequente Utilitarist hingegen bleibt eine flache Person, die – und darauf macht Strawson in obigen Zitat aufmerksam – zudem in einer elenden Einsamkeit gefangen ist. Die Weisheiten “Geld allein macht nicht glücklich” oder “Money can’t buy me love” meinen genau das: das funktionale Hantieren mit Geld ist kein personales Interagieren, das einem echte Freundschaft und Liebe verschafft, das einen aus der Isolation holt.
Auf die Einsamkeit, die manche Theorien zur Folge haben, macht auch Gilbert Ryle in seinem berühmten Buch “Der Begriff des Geistes” in bezug auf Descartes’ Theorie vom Leib-Seele-Dualismus aufmerksam: “Nach dieser Theorie ist absolute Einsamkeit das unausweichliche Geschick der Seele. Nur unsere Körper können einander finden.” 5 Ich glaube, daß es eine große Anzahl inkonsequenter Utilitaristen und damit einhergehend eine große Anzahl einsamer Menschen gibt. Dies soll nicht heißen, daß Einsamkeit immer eine Folge utilitaristischer Überzeugung ist. Doch sie steht in engem Zusammenhang mit funktionaler Interaktion. Ich werde auf diesen Punkt in meiner Schlußbemerkung noch genauer eingehen.

Bevor ich nun endlich wieder auf die Freiheit zurückkomme, möchte ich meine Ausführungen zum Personenbegriff kurz zusammenfassen. Der zentrale Satz ist: Wir sind Personen, weil wir sprechen. Da wir aber auch von Tieren sagen wollen, daß sie kommunizieren können, habe ich zwischen vorsubjektsprachlicher und subjektsprachlicher Kommunikation unterschieden, d.h., ich habe mit Frankfurt behauptet, Personen unterschieden sich von Nicht-Personen, z.B. Tieren, dadurch, daß sie Erfahrungssubjekte sind aufgrund ihrer Fähigkeit zur reflektierenden Selbstbewertung. Eine Selbstbewertung ist dabei eine Geschichte, die wir zu einem Objekt erzählen, das wir als “Ich” bezeichnen, dem Ort der Erfahrung. Diese Geschichte macht das Objekt zum Subjekt und ist gleichzeitig das Subjekt oder: das Selbst. Sie ist eine Zuschreibung, die wir anderen und uns gegenüber treffen, wenn wir auf bestimmte Weise miteinander interagieren wollen. Im Gegensatz zu Tieren, die nur funktional interagieren können, haben Menschen als Personen die Möglichkeit, personal zu interagieren. Menschen können als Nicht-Personen auch funktional handeln, doch als Personen können sie nur personal handeln. Das nannte ich “die alte Unterscheidung von personaler und funktionaler Interaktion”.
Dann habe ich vorgeschlagen, innerhalb der personalen Interaktion zwischen funktionalem – wir interagieren mit Personen, nehmen sie aber hauptsächlich in ihrer Funktion wahr – und personalem Interagieren – wir interagieren mit Personen und nehmen sie hauptsächlich in ihrem Personsein wahr – zu unterscheiden. Dies nannte ich “die neue Unterscheidung von personaler und funktionaler Interaktion”. Mit Strawson konnte ich zeigen, daß zwischen rein funktionalem und rein personalem Verhalten viele Zwischenstufen vorkommen, die abhängig davon sind, wie objektiv die Haltung der einen Person der anderen gegenüber ist. Mit Taylor habe ich daraufhin zwischen flachen und tiefen Personen unterschieden, wobei ich einen Zusammenhang hergestellt habe zwischen funktionaler Interaktion und flachem Personsein und personaler Interaktion und tiefem Personsein. Ich habe gezeigt, daß Personen auf kategorial andere Weise miteinander verbunden sind als Nicht-Personen – nämlich im “Club der Personen” – und konnte dadurch den überzeugten Utilitaristen widerlegen, der behauptete, personale Interaktion sei eine Illusion. Was hat das aber alles mit Freiheit zu tun? Personen sind frei – notwendigerweise. Warum das so ist, will ich im folgenden zeigen.

-> V.

Notes:

  1. Daß diese Formulierung nicht ganz korrekt ist, wird sich weiter unten zeigen; ebenso, warum ich sie dennoch gebrauche.
  2. Diese Feststellung mag überraschen, da es doch offensichtlich Vorschriften gibt, die sich an die Menschen als Personen richten, wie die Zehn Gebote oder das Grundgesetz, in dem verboten wird, die Würde des Menschen anzutasten, die ja eindeutig Teil der Person ist. Das ist richtig, und ich würde den scheinbaren Widerspruch so auflösen: Wenn wir den Vorschriftscharakter der Gesetze betonen, dann sind sie normativ und funktional, wenn wir hervorheben wollen, daß es dabei um Personen geht, dann sind die Gesetze deskriptiv und personal. Wie ist das zu verstehen? Stellen wir uns zwei Situationen vor: In der ersten nimmt ein Autofahrer einem anderen die Vorfahrt, und es kommt zu einem Zusammenstoß. Der eine vermutet, der andere habe seinen Führerschein im Lotto gewonnen, woraufhin dieser fragt, wie er überhaupt darauf komme, daß rechts vor links Vorfahrt habe. Dieser antwortet: “Das steht so in der Straßenverkehrsordnung.” In der zweiten Situation sagt jemand seinem Folterer: “Halt, Du darfst mich nicht foltern, da das meine Würde antastet.” Dieser antwortet: “Ach ja? Wieso sollte denn ausgerechnet die Würde nicht angetastet werden dürfen?” – “Das steht so im Grundgesetz.” Was im ersten Beispiel ganz normal erscheint, kommt uns im zweiten komisch vor: der Verweis auf eine Norm. Das liegt daran, daß ein normatives Gesetz etwas von außen Herangetragenes, etwas Unpersönliches ist, während die Idee, daß man die Würde des anderen nicht antasten darf, etwas ist, das mit mir, dem anderen und unserer Beziehung zueinander zu tun hat. Es ist ein Destillat unserer Beziehung und keine von außen erwirkte Regelung unseres Umgangs. Des Opfers Verweis auf das Grundgesetz scheint sinnlos, da der Folterer entweder weiß, daß die Würde nicht anzutasten ist, oder er gar keine Ahnung hat, was Würde eigentlich ist und daß es etwas mit ihm zu tun hat. Er könnte mit dem Verweis auf das Grundgesetz gar nichts anfangen. Der Satz “Die Würde des Menschen ist unantastbar” ist so gesehen keine Norm, sondern eine Beschreibung dessen, wie wir in unserem Kulturkreis miteinander umzugehen gedenken. Ähnliches gilt für die Zehn Gebote. Was ist das für ein Mensch, der nur deswegen nicht tötet, weil es in den Zehn Geboten steht? Eine stark deformierte Person. Für intakte Personen sind derartige Gebote eine Selbstverständlichkeit. Es sind Sätze, die mit ihrem Selbstverständnis zu tun haben, und eben keine Sätze, die von außen an sie herangetragen werden. Nun beschreibt das allerdings ein Idealbild von Personen, da es voraussetzt, daß sich Personen ihres Personseins und dem, was daraus begrifflich folgt, immer bewußt sind. Tatsächlich sieht die Welt ein wenig anders aus, da vielen Menschen die Einsicht darin, was aus dem Personsein folgen muß, permanent oder zeitweise fehlt. Deswegen haben Gesetze, die Personen betreffen, auch normativen Charakter.
  3. Personale Interaktion und Liebe weisen, meiner Ansicht nach, strukturelle Ähnlichkeiten auf.
  4. Strawson (1978) S. 214/215. Die These, auf die sich dieses Zitat bezieht, ist die von Strawson soge- nannte “deterministische These”, wie ich sie im ersten Kapitel vorgestellt habe. Diese scheint zur Folge zu haben, daß man keinen guten Grund angeben kann, warum man in interpersonalen Beziehungen die objektive Haltung aufgeben soll, daß es vielmehr einzig vernünftig wäre, nur noch in objektiven Haltungen einander gegenüberzutreten, also funktional zu interagieren.
  5. Ryle (1969) S. 12.