V.4 Erleben von Willensfreiheit

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V.4 Erleben von Willensfreiheit

V.4.1 Zusammenhang Freiheitserleben und Sprache

Das, was wir im Kapitel über den Zusammenhang von Erleben und Sprache herausgefunden haben, soll nun auf das Freiheitserleben angewandt werden. Wie ich bereits festgestellt habe, ist Willensfreiheit ein subjektbezogenes Erleben. Nur Wesen, die ihren Wünschen bewertend gegenübertretend können, können in freier Entscheidung auf ihren Willen Einfluß nehmen. Diese Wesen habe ich Subjekte, Selbste oder Personen genannt. Nicht-Personen können diese Form von Freiheit nicht erleben. Es ist eben nicht so, daß wir ein Erleben haben und die Sprache faßt es nur in Begriffe, damit wir unseren Mitmenschen mitteilen können, wann wir uns unfrei oder frei fühlen. Diese Ansicht suggeriert das Bild der Sprache als Medium. Doch mit Wittgenstein und Taylor können wir sehen: Erst durch unsere Fähigkeit zu sprechen können wir frei und unfrei sein in unseren Entscheidungen und können wir Freiheit und Un- freiheit des Willens erleben. Tiere sind nicht unfrei in ihren Entscheidungen, sondern sie haben keine Entscheidungsfreiheit. Deswegen können sie auch die Unfreiheit des Willens nicht erfahren.
Doch Sprache ist nicht nur Bedingung für das Haben subjektbezogener Gefühle, sie kann diese auch formen, schärfen und vertiefen. Das Nachdenken über Freiheit, das Lesen philosophischer Texte nehmen Einfluß auf unser Erleben, da die entstehenden Gedanken Eingang finden in unser Verständnis von uns selbst und unserer Umwelt. Sprache bringt Freiheit erst hervor, und ein Nachdenken über Freiheit kann die Gefühle, die wir mit Freiheit in Verbindung bringen, beeinflussen, indem es bestimmte Überzeugungen herausbildet. Daß das Erleben des nur schwach Wertenden ein anderes ist als das des stark Wertenden, haben wir mit Taylor gesehen: Der personal Interagierende hat ein größeres, genaueres Vokabular für das Beschreiben seines Erlebens als der Utilitarist – die “Sprache kontrastiver Charakterisierung”. Und ein präziseres und reicheres Vokabular erlaubt eine präzisere und reichere, tiefere Selbstbeschreibung, die wiederum zu einem reicheren Erleben führt.

V.4.2 Nicht anders können

Ich habe behauptet, eine Person sei genau dann frei in ihrer Entscheidung, wenn sie ihren Überlegungen Einfluß gewährt auf ihre Willensbildung. Wenn dies gelingt, fühlt sie sich frei. Die Unfreiheit des Willens tritt demnach dann auf, wenn das Zusammenspiel von Überlegung und Willensbildung aus irgendeinem Grund nicht funktioniert. Peter Bieri beschreibt in seinem Buch “Das Handwerk der Freiheit” sechs Fälle von unfreiem Willen: den Getriebenen, die Marionette, den gedanklichen Mitläufer, den Süchtigen, den Unbeherrschten und den Erpressten. 1 Im Falle des Getriebenen setzt das Überlegen permanent aus, bei der Marionette wird es übergangen, beim Mitläufer eingeschläfert, beim Süchtigen fehlt die Verbindung zur Willensbildung, beim Unbeherrschten wird es durch eine emotionale Aufwallung außer Kraft gesetzt. Nur im letzten Fall, im Fall des Erpressten, ist das Zusammenspiel nicht auf irgendeine Weise gestört, sondern gerade die Intaktheit des Zusammenspiels ermöglicht erst die Erpressung, wie ich oben bereits gezeigt habe.
Mit dem Satz “Ich konnte nicht anders” könnte jeder der Unfreien – ausgenommen der Getriebene – seine Handlungen entschuldigen und seine Unfreiheit beschreiben. Bieris Getriebener ist keine Person und kann über sich nicht reflektieren. Auch der Erpresste bildet eine Ausnahme, da er zumindest theoretisch die Herausgabe des Geldes verweigern könnte. Doch die Wahl zwischen Sterben und Geldherausgabe ist im Normalfall keine, da die Alternativen keine echten Alternativen sind. Gerade das nennt man ja eine Erpressung: Man zwingt jemanden, etwas zu tun, das er nicht will, indem man ihm die Wahl läßt, ihm aber Konsequenzen aus seinem Nichttun aufzeigt, die er noch viel weniger wollen kann; wobei die Grenzen zwischen Die-Wahl-Lassen und Erpressung fließend sind. In den anderen vier Fällen, in denen das Überlegen keinen Einfluß auf die Handlungen hat, entsteht das Gefühl der Unfreiheit im Nachhinein. Rückblickend sagen sich die Betroffenen: “Ich wollte das eigentlich nicht tun.” Und dieses “Ich” heißt so viel wie “Ich als Person”.
Interessanterweise läßt sich aber auch die Erfahrung der Freiheit als ein “Ich konnte nicht anders” beschreiben. Doch diesmal liegt es nicht an einem äußeren oder inneren, das Personsein umgehenden Zwang, sondern am Zwang, den das Überlegen ausübt, den dasjenige ausübt, das uns erst zu Personen macht. Wenn ich so handele, wie es mir meine Überlegungen vorschreiben, erfahre ich mich als frei. D.h., es ist – in einer bestimmten Lesart – nicht widersprüchlich, zu behaupten, man sei genötigt worden und deswegen frei gewesen. Frankfurts Ansicht nach gibt es neben der Nötigung durch Überlegen auch die Nötigung durch Liebe, die ebenfalls zu einem großen Freiheitserleben führen kann. 2

V.4.3 Übereinstimmung von Wille und Volition

Mit Frankfurts Unterscheidung zwischen Wille und Volition können wir die Freiheitserfahrung noch von einer anderen Seite unter die Lupe nehmen. Er schreibt:

“Jemand macht […] dann von seiner Willensfreiheit Gebrauch, wenn er sicherstellt, daß sein Wille und seine Volitionen zweiter Stufe übereinstimmen.” 3

Ich habe verschiedene Willen; und als Person kann ich sie nicht nur haben, sondern mich auch mit ihnen identifizieren oder sie ablehnen. Wenn ich mich mit ihnen identifiziere, baue ich sie in meine Personengeschichte ein und habe ein angenehmes Gefühl, da das, was ich tue, mit meinem Selbstbild übereinstimmt. Dieses Gefühl läßt sich als ein Gefühl der Freiheit beschreiben. Lehne ich einen Willen hingegen ab, ist mir die Handlung, die mit dem Willen verbunden ist, fremd. Ich kann sie nicht mit meinem Selbstbild in Verbindung bringen, was ein Gefühl der Unfreiheit erzeugt.
Wenn ich nun einen solchen Willen bemerke, mit dem ich mich nicht identifiziere, kann ich versuchen, ihn dennoch zu meinem Willen (in einem emphatischen Sinne) zu machen, indem ich ihn in meine Personengeschichte einbaue, um dadurch das unangenehme Gefühl der Unfreiheit zu beseitigen. Bieri nennt diesen Vorgang die “Aneignung des Willens”. 4 Er unterscheidet daran drei Dimensionen: die Artikulation, das Verstehen und die Billigung. Die Aneignung des Willens kann nämlich nicht einfach ein willentlicher Akt sein, denn ich will ja gerade dies oder jenes, und kann nicht wollen, nicht zu wollen. Ich heiße es lediglich nicht gut, dies oder jenes zu wollen, da Volitionen eben Wünsche und keine Willen zweiter Stufe sind.
Durch die Artikulation des Willens findet man zuallererst heraus, welchen Willen man eigentlich hat. Denn wie wir schon gesehen haben, hat man keinen unfehlbaren Zugang zu seinen Wünschen. Vor allem auch durch das Selbstbild gibt es hier einen großen Spielraum für Selbsttäuschungen. Ich weigere mich vielleicht zunächst, einen Willen als einen solchen zu beschreiben, den ich nicht gutheißen kann, und erzähle mir eine Geschichte, die den Willen verzerrt darstellt. So mag ich mich als freigebige Person beschreiben und mein Drücken ums Bezahlen der nächsten Runde mir und den anderen gegenüber mit der Ausrede erklären, ich hätte nicht genug Geld dabei. Doch wäre ich ehrlich bzw. würde ich genauer hinsehen, könnte ich zur Einsicht gelangen, daß ich vorsätzlich nicht ausreichend Geld eingesteckt habe, um eine Vorwand zu haben, die Freunde nicht einladen zu müssen. Bieri schreibt:

“Artikulation als der erste Schritt der Aneignung ist unter anderem die Anstrengung, Lebenslügen, sofern sie den Willen betreffen, aufzulösen und durch eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme des eigenen Wünschens zu ersetzen.” 5

Der zweite Schritt ist das Verstehen des Willens. Ein Wille kann dann als verstanden angesehen werden, wenn er sich in eine größere, kohärente Geschichte – eine Interpretation – einbinden läßt, die z.B. erklärt, wie er zustande gekommen ist und wie er mit den anderen Wünschen der Person zusammenhängt:

“Wenn es uns gelingt, einem scheinbar ungereimten Willen […] einen Sinn zu geben und seine verborgene Stimmigkeit aufzudecken, so bedeutet das einen Zuwachs an Willensfreiheit. Das ist in doppeltem Sinne so. Zum einen verschwindet der Eindruck, daß ein Riß durch uns hindurchgeht und daß es Wünsche gibt, die als Fremdkörper in uns wuchern. Im Inneren von fremd anmutenden Wünschen umstellt zu sein, ist, als ob man innerhalb von Gefängnismauern lebte, und das Verstehen ist das Mittel, sie niederzureißen. Zum anderen kann das Verstehen zu einer inneren Umgestaltung führen, die den Wunschkonflikt zum verschwinden bringt.” 6

Auch wenn man den Willen artikulieren konnte und verstanden hat und dadurch schon an Willensfreiheit gewonnen hat, heißt das noch nicht, daß man den Willen auch billigt. Doch es kann einem ermöglichen, das eigene Selbstbild insoweit abzuwandeln, daß der Wille darin Platz findet. Dann ist der Wille frei.
Bieri ist der Ansicht, daß Frankfurts Idee von Willensfreiheit als Übereinstimmung von Wille und Volition nicht selbsttragend ist, sondern daß der entscheidende Aspekt, der hinzukommen muß, das Verstehen ist. Er führt in einem Gedankenexperiment eine Person an, deren Bewertung ihrer Wünsche sich im Laufe der Zeit verändert hat, deren Selbstbild sich somit geändert hat, die jedoch – kommt sie in ähnliche Situationen wie früher – wieder den alten Willen ausbildet, der ihr nun fremd ist. Sie fühlt sich unfrei. Doch als sie eines Morgens aufwacht, ist der Konflikt verschwunden. Es ist also entweder ihr Selbstbild wieder das alte, oder der alte Wille ist nicht mehr vorhanden.

“Wäre die Idee des freien als des gebilligten Willens eine Idee, die sich selbst trüge, so müßten Sie sich nach beiden Varianten des nächtlichen Geschehens als jemanden erleben, der in seinem neuen Willen gänzlich frei ist, denn in beiden Fällen kommen Selbstbild und antreibender Wille zur Deckung. Doch das wäre nicht Ihre Erfahrung. Es wäre gespenstisch, ein bißchen wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Das Gespenstische, möchten Sie vielleicht sagen, wäre das Abrupte am verblüffenden Verschwinden des gestern noch so quälenden Konflikts. Doch wenn Sie ausloten, was der Gehalt der Erfahrung ist, die Sie mit diesem Wort belegen möchten, werden Sie sehen, daß es dieser ist: Sie verstehen nicht, warum sich Ihr Wille und dessen Bewertung verändert haben. Und das vollständige Dunkel, das die Willensveränderung umgibt, verstellt Ihnen die Erfahrung der Freiheit.” 7

Dieses Nicht-Verstehen drückt aus, daß man keine kohärente Geschichte über sich erzählen kann. Die Erfahrung der Unfreiheit ist hier somit einem Mangel an Kohärenz geschuldet. Neben der Übereinstimmung von Wille und Volition muß auch eine möglichst umfassende und kohärente Personengeschichte vorliegen, um Freiheit größtmöglich ausschöpfen und eine tiefe Person sein zu können. Eine Person, die viele ihrer Willen ablehnt oder die wenig über ihre Willen weiß, die diese Willen also nicht in ihre Personengeschichte aufnehmen kann, ist eine flache Person. Für sie gilt, was wir weiter oben über flache Personen gesagt haben.
Ich bin in diesem Kapitel auf die Willensfreiheit eingegangen und habe sie hauptsächlich als Entscheidungsfreiheit abgehandelt. Von ihr zeigte ich, daß sie hervorgebracht wird durch das Sprechen, daß eine begriffliche Verknüpfung mit dem Begriff “Person” vorliegt und daß die Unterscheidung zwischen tiefen und flachen Personen auch etwas zum Verständnis von Freiheit beiträgt. Ich habe dargelegt, inwiefern die Interaktionspartner bezüglich der Freiheit miteinander verknüpft sind, welche Rückwirkungen Sprache auf das Freiheitserleben hat und welche Rolle die Nötigung beim Erleben von Freiheit und Unfreiheit spielt. Nur im letzten Abschnitt habe ich Willensfreiheit nicht als Entscheidungsfreiheit betrachtet, sondern als Übereinstimmung des Selbstbildes mit dem Willen.
Dies ist aber keine völlig andere Freiheit, es ist sozusagen die umgedrehte Blickrichtung: Im ersten Falle bildet man durch Überlegung einen Willen aus, wodurch die Übereinstimmung von Selbstbild und Wille (zumindest bei der starken Wertung) bereits gegeben ist, im zweiten Falle besteht der Wille schon und muß mit dem Selbstbild unter einen Hut gebracht werden. Doch die Klarheit dieses Bildes darf nicht in die Irre führen: Das Selbstbild beruht auf Wünschen und der Bewertung von Wünschen und ist zudem in einem ständigen Wandel. Darüber hinaus ist der wahre Gehalt von Wünsche und Willen nicht letztgültig zu bestimmen. Das Festmachen eines Selbstbildes, eines Willens und seiner Fremd- oder Vertrautheit, seiner Billigung oder Ablehnung ist deswegen meist nicht in einer klaren Weise zu leisten. Tatsächlich muß immer eine Unschärfe bleiben. Aus diesem Grund ist es auch bisweilen so, daß die Frage nach “Freiheit” oder “Unfreiheit” in einem bestimmten Fall nicht eindeutig beantwortet werden kann. Bieri ist sogar der Ansicht, daß es “wesentlich [ist] für die Idee des freien als des angeeigneten Willens, daß es Zeiten gibt, wo diese Frage nicht entscheidbar ist.” 8
Im folgenden, abschließenden Kapitel dieser Arbeit werde ich die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassen und auf einen Punkt eingehen, der im vorangegangenen einige Male angedeutet, aber nie weiter ausgeführt wurde – der Zusammenhang zwischen funktionaler Interaktion und Einsamkeit bzw. personaler Interaktion und Liebe.

-> VI.

Notes:

  1. Vgl. Bieri (2001). Darin v.a. S. 84-126.
  2. Vgl. Frankfurt (2001b).
  3. Frankfurt (2001h) S. 77.
  4. Vgl. Bieri (2001). Darin v.a. S. 381-415.
  5. Bieri (2001) S. 388.
  6. Bieri (2001) S. 395.
  7. Bieri (2001) S. 406. Kursiv im Original.
  8. Bieri (2001) S. 413.

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