III.2 Gibt es einen Unterschied zwischen “frei fühlen” und “frei sein”?

<- III.1

III.2 Gibt es einen Unterschied zwischen “frei fühlen” und “frei sein”?

Bedeuten die letzten beiden Sätze dasselbe? Man könnte fragen: “Wollt Ihr Euch nur frei fühlen oder wollt Ihr wirklich frei sein?” Was jemandem, der diese Frage stellt, vorschweben muß, ist die Existenz einer absoluten Freiheit, einer Freiheit, die losgelöst ist vom Erleben. Doch etwas, das losgelöst ist von unserem Erleben, kann für uns als Erlebende eben nicht bedeutsam sein. Es ist zwar sicherlich so, daß wir Kriterien dafür haben, wann wir sagen wollen, jemand sei frei, und wann nicht. Doch diese Kriterien müssen rekurrieren auf ein Erleben von Freiheit, da sie ansonsten nichts mit uns als erlebende Wesen zu tun haben. So ist die Feststellung “Jetzt bin ich endlich frei und fühle mich doch nicht frei” zwar als Momentaufnahme verständlich, jedoch nicht als eine prinzipielle Aussage. Sie besagt, daß der Sprecher nach unseren Kriterien von Freisein nun frei ist, daß er aber kein Freiheitsgefühl hat. Vielleicht fährt er mit seinem Motorrad durch die USA, sein großer Traum von Freiheit, und stellt fest, daß das Durchfahren weiter Landschaften, das Uneingeschränktsein in der Bewegung, sich als Produzent von Freiheitsgefühlen schnell abnutzt. Ich vermute, er würde nach einem Moment des Reflektierens eher seine Kriterien überdenken als zu sagen, seine Gefühle seien falsch, oder als hinzunehmen, daß beides – frei sein und frei fühlen – eben nichts miteinander zu tun habe.
Die Idee von Freiheit, die hinter dem Traum des Motorradfahrers steht, ist die einer negativen Freiheit: Ich bin frei, wenn ich keine Einschränkungen erfahre. 1 “Ich kann tun, was ich will!” sagt der Biker. “Ich kann dahin fahren oder dorthin. Nichts hält mich auf, niemand schreibt mir etwas vor.” Diese Theorie einer negativen Freiheit beruft sich “auf einen Möglichkeitsbegriff […], dem zufolge frei zu sein davon ab- hängt, was wir tun können, was unserem Handeln offensteht, unabhängig davon, ob wir etwas tun, um diese Optionen wahrzunehmen oder nicht.” 2 Das hieße, man wäre umso freier, je mehr Optionen zu handeln man hätte. Auf dieser Folie ist die Frage “Wollt Ihr Euch nur frei fühlen oder wollt Ihr wirklich frei sein?” verständlich, denn sie nimmt an, daß es ein objektives Kriterium für Freiheit gibt, nämlich das Kriterium der Anzahl der Optionen des Handelnden. Wenn man dieser Theorie anhängt, dann kann man jemanden darauf aufmerksam machen, daß er, wenn er dieses macht, weniger Optionen hat, als wenn er jenes tut. Und wenn er dieses macht und sich frei fühlt, kann man sagen: “Das mag sein, daß Du Dich hier frei fühlst. Aber im anderen Falle wärst Du wirklich frei.” Und wenn er erwidert “Aber mich interessieren diese ganzen Optionen doch gar nicht”, sagt man: “Das ist doch egal. Willst Du Dich nur frei fühlen oder willst Du wirklich frei sein?”
Die Absurdität dieser Entgegnung zeigt: Es ist offensichtlich nicht egal. Und das heißt, daß man die Frage “Wollt Ihr Euch nur frei fühlen oder wollt Ihr wirklich frei sein?” in einer uninteressanten Lesart zwar verstehen kann, doch daß die Alternative, die scheinbar angeboten wird, keine echte Alternative ist, da in dieser Lesart trotz der rhetorischen Nahelegung der zweiten nur die erste der Alternativen wünschenswert ist. Denn wie wir oben gesehen haben, ist wünschenswert dasjenige, das gut für unser Wohlergehen ist. Eine Freiheit, die unabhängig von unserem Erleben ist, kann auch nicht gut für unser Wohlergehen sein. Wenn ich mich entscheiden müßte, ob ich mich frei fühlen möchte oder ob ich mehr theoretische Handlungsmöglichkeiten haben will, die mich überhaupt nicht interessieren, wird meine Wahl auf dasjenige fallen, das mir etwas bedeutet. In einer relevanten Lesart meinen beide Sätze dasselbe. Es gibt kein interessantes oder bedeutsames Verständnis des Satzes “Ich bin frei”, das anders lautet als “Ich fühle mich frei.”

-> III.3

Notes:

  1. Nach Charles Taylor ist das die “karikaturistische Extremform” der Theorie der negativen Freiheit, die auf Hobbes und Bentham zurückgehe: Freiheit als Abwesenheit von externen physischen oder gesetzlichen Hindernissen. Vgl. Taylor (1992a).
  2. Taylor (1988) S. 121.