III. HANDLUNGSFREIHEIT

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III. HANDLUNGSFREIHEIT

Da die Frage “Was ist Freiheit?” klingt, als würde sie nach dem Wesen von Freiheit fragen, und uns so in die falsche Richtung lenkt, möchte ich sie ein wenig anders formulieren. Mich interessiert: “Was ist uns wichtig an der Freiheit?” bzw. “Was trägt der Begriff ‘Freiheit’ zu unserem Verständnis unseres Seins in der Welt bei?” Um zu verstehen, was uns an der Freiheit wichtig ist, ist es hilfreich zu fragen, was uns überhaupt wichtig ist. Mit “uns” meine ich uns als erlebende, handelnde und reflektierende Wesen. Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zwei Vorüberlegungen anstellen: Wieso tun wir überhaupt etwas? Und: Was verstehen wir unter einem Tun?

III.1 Handeln, Wünschen, Wollen

Wenn wir eine Bewegung im Raum-Zeit-Kontinuum als eine Handlung beschreiben, schreiben wir der Bewegung einen Urheber zu, der willentlich die Bewegung ausführt. So unterscheiden wir zwischen jemandem, dem etwas nur geschieht, und jemandem, der etwas tut. Wenn Ahab am Ende von John Hustons Film “Moby Dick” an den Wal gefesselt zu winken scheint, heißt das, daß er eben nicht winkt, sondern daß sein Arm durch die Bewegungen des Tieres und des Meeres hin und her klappt. Ahab ist bereits tot und kann keine willentlichen Bewegungen mehr ausführen. Angenommen aber wir wüßten nicht, daß er gestorben ist, und wir sähen nur die Bewegungen des Arms, wie könnten wir wissen, daß diese Bewegung kein Winken Ahabs ist?
Objektiv betrachtet, könnte man sagen, ist die Armbewegung in beiden Fällen gleich, ob nun ein Wille dahinter steckt oder nicht. Die reine Beobachtung kann unser Rätsel nicht lösen. Wir müssen unser Wissen um die Situation und um die Person Ahabs anzapfen. Wir müssen uns fragen, ob wir die Bewegung überhaupt als eine Handlung verstehen können, ob wir zu der Bewegung in Verbindung mit unserem Wissen über Ahab und über die Situation, in der er sich befindet, eine Geschichte erzählen können, die uns die Bewegung als Handlung verständlich macht. Eine solche Geschichte zu erzählen heißt, eine hermeneutische Geschichte zu erzählen, heißt, das zu Erklärende als einen Fall von rationalem Verhalten zu verstehen. Wenn wir keine Geschichte finden, werden wir sagen, daß die Bewegung unwillentlich und er bewußtlos, tot oder sehr entspannt ist. Wir schreiben anderen Handlungen und somit einen Willen zu, um ihre Bewegungen als ihre Bewegungen zu verstehen.
So ist es auch mit mir selbst. Ich schreibe mir einen Willen zu, um meine Handlungen als solche zu verstehen. Natürlich gibt es einen wichtigen Unterschied zu der Zuschreibung bei anderen: Ich erlebe meine Taten auf eine Weise, auf die ich die Taten der anderen nicht erlebe. Handlungen haben eine Innenseite, die für den Beobachter nicht erfahrbar ist.
Ich habe erklärt, auf welche Weise die Begriffe Handlung, Wille und Urheberschaft miteinander verknüpft sind. Nun möchte ich untersuchen, warum wir überhaupt etwas tun, was uns also in Bewegung setzt.
Stellen wir uns vor, wir sitzen gemütlich im Sessel und faulenzen. Wir tun nichts. Es kommt zwar zu Bewegungen – die Hand zittert ein wenig, der Bauch hebt sich bei jedem Atemzug -, aber wir vollziehen keine Handlung. Wir sind wunschlos glücklich, wir müssen nichts tun. Was bringt uns dazu, doch etwas zu machen? Möglicherweise fällt uns ein, daß wir einen Termin für ein Vorstellungsgespräch haben. Aber das kann uns heute nicht in Bewegung setzen. Da klingelt das Telefon. Wir lassen uns von anderen nicht zwingen, etwas zu tun – wir gehen nicht ran. Der Magen knurrt. Soll er knurren. Die Blase drückt. Na und? Plötzlich spüren wir einen stechenden Schmerz im Zeh. Wir tun nichts. Anscheinend haben wir den starken Wunsch, uns ja nicht zu bewegen. Dieser Wunsch ist stärker als der Wunsch, einen Job zu bekommen, einen Anruf zu beantworten oder den Hunger zu befriedigen. Was uns in Bewegung setzt oder davon abhält, uns zu bewegen, sind Wünsche. Einen Wunsch, der uns in Bewegung setzt – hier greife ich einen Vorschlag von Harry Frankfurt auf -, bezeichnen wir auch als Wille. 1
Ich schlage folgende Verwendung des Begriffs “Wunsch” vor: Ein Wunsch tritt auf, wenn wir einen Mangel spüren, wenn wir in irgendeiner Hinsicht unbefriedigt sind, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist. Wir wollen den Zustand der Unbefriedigung beenden und setzen uns deswegen in Bewegung. Wir wollen, so könnte man auch sagen, daß es uns gut geht. Das ist unser fundamentales Streben. Das ist etwas, das jede unserer Handlungen kennzeichnet.
Doch nicht jeder Wunsch setzt in Bewegung. Wünsche, die uns nicht in Bewegung setzen, lassen sich in mindestens drei Arten unterteilen: die “unechten”, die “unterlegenen” und die “unrealistischen”. “Unecht” sind Wünsche, wenn sie keine echte innere Begleitung haben, wenn sie eher intellektueller als emotionaler Natur sind. Wenn man die Frage “Wünschen Sie sich, daß im Iran freie Wahlen stattfinden?” bejaht, ist das ein Wunsch, den man vor der Frage vielleicht gar nicht hatte, aber da man freie Wahlen für gut hält, hält man sie auch im Iran für gut. “Unterlegen” ist ein Wunsch, der nicht zu einem Willen werden konnte, da andere Wünsche stärker waren und nicht alle Wünsche in Bewegung setzen konnten. “Unrealistisch” ist ein Wunsch, wenn die Erfüllung nicht erreichbar scheint, wie bei der Frau, die sich wünscht, schwanger zu werden, obwohl sie unfruchtbar ist.
Wenn ein Wunsch befriedigt wird, empfinden wir das als etwas Gutes. Wir können natürlich darüber reflektieren und beispielsweise sagen, daß in uns zwar der Wunsch besteht, fernzusehen, daß die Erfüllung des Wunsches dennoch nicht wünschenswert, also etwas Ungutes ist, da wir eigentlich keine Zeit dafür haben und wichtigere Dinge vernachlässigen würden. Doch liegt hier sozusagen ein Meta-Wunsch vor, der getrennt von dem ersten Wunsch betrachtet werden muß.
Scheinbare Gegenbeispiele zu dieser These lassen sich leicht finden: Wie kann es für jemanden, der den Wunsch hat, sich umzubringen, gut sein, daß sein Wunsch erfüllt wird? Wie für jemanden, der sich freiwillig auspeitschen läßt? Wie für eine Mutter, die ohne Rücksicht auf sich selbst versucht, ihren Kindern ein möglichst angenehmes Aufwachsen zu ermöglichen? Doch wer diese Fragen stellt, übersieht: Wäre es nicht auf irgendeine Art gut für sie, würden sie es ganz einfach unterlassen. Der Selbstmörder will sein Leid beenden, der Masochist sich sexuell stimulieren, die Mutter einem Ideal folgen. Wenn jemand einen Wunsch äußert, sagen wir von ihm, daß er glauben muß, daß das Eintreten des gewünschten Ereignisses ihn befriedigen wird.
So verwenden wir den Begriff. Wir könnten für das Verhalten der Selbstmörder und Masochisten ansonsten keine Gründe angeben, und somit könnten wir es nicht mehr als ein Handeln verstehen. In einem Wollen steckt immer ein “gut für mich” in einer bestimmten Hinsicht, das in einer anderen Hinsicht schlecht für mich sein kann, dann aber auch in dieser Hinsicht nicht gewünscht wird. Der Masochist wünscht sich ja nicht, daß es ihm schlecht geht, sondern daß er eine sexuelle Erregung erfährt, also daß es ihm gut geht. Daß er sich dabei dazu bringt, daß es ihm in gewisser Hinsicht schlecht geht, ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Die letzten Zwecke eines Wün- schenden, so könnte man sagen, sind bezogen auf sein Wohlergehen notwendig gut für ihn. Anders formuliert: Es ist eine analytische Feststellung, daß die Erfüllung eines Wunsches beim Wünschenden affirmativ aufgenommen wird.
Wir tun etwas, weil wir Wünsche haben, und Wünsche sind Ausdruck eines erlebten Mangels. So kann ich also nun behaupten, daß das, was hinter all unseren Handlun- gen steht, ein Streben nach einem Zustand von Befriedigung ist. Was für uns wichtig ist, ist das Wohlergehen. Was die Freiheit betrifft: Fühlen wir uns unfrei, erleben wir das als unangenehm, lästig, bedrohlich. Was uns an der Freiheit wichtig ist, ist somit das Erleben von Freiheit. Wir wollen uns frei fühlen. Wir wollen frei sein.

-> III.2

Notes:

  1. Vgl. Frankfurt (2001h).