II.3 Zusammenhang Erleben und Sprache

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II.3 Zusammenhang Erleben und Sprache

II.3.1 Das Erleben als Bedingung und Ursache für das Sprechen

Ich habe gezeigt, wie es möglich ist, daß Sprechende etwas Bedeutungsvolles äußern, nämlich indem sie etwas äußern innerhalb eines Sprachspiels, das konstituiert wird durch die Gemeinschaft der Sprechenden. Damit wird auch klar, warum Computer und Papagei nicht dazu imstande sind, Bedeutungsvolles zu äußern: Sie spielen nicht unsere Sprachspiele. Auch wenn sie Geräusche produzieren, die klingen wie “Ich habe Dich wirklich gerne”, können sie mit diesem Satz nichts meinen, da sie keine geeigneten Mitspieler für unsere Sprachspiele sind. Sie gehören, wie Wittgenstein sich ausdrückt, nicht zu unserer “Lebensform”. Wir können die Geräusche, die sie hervorbringen, zwar als die Wortfolge “Ich habe Dich wirklich gerne” interpretieren und in dem Satz eine Bedeutung entdecken, doch dafür müssen wir uns ein Sprachspiel erfinden, in dem der Satz von einem geeigneten Mitspieler geäußert wird. Wir könnten beispielsweise annehmen, jemand wolle mit uns das Sprachspiel “Beteuerung der Freundschaft” spielen, indem er den Satz per Email an unseren Computer schickt, der die Zeichen jetzt in Geräusche umsetzt. Die Äußerung stammt dann genaugenommen nicht vom Computer, sondern vom Absender der Mitteilung. Im Falle des Vogels könnten wir uns vorstellen, ein Liebespaar habe sich in Anwesenheit des Vogels unterhalten, wobei der Satz fiel, und der Vogel habe die Geräusche der Äußerung des Satzes gespeichert und wiederhole sie nun. Wir können uns auch andere Situationen ausdenken, die dann jeweils die Bedeutung des Geäußerten verändern, doch um überhaupt mit dem Geäußerten Bedeutung verbinden zu können, benötigen wir irgendeine Geschichte, die geeignete Mitspieler für das Sprachspiel enthält; Mitspieler unserer Lebensform, mit unseren Erfahrungen, Mitspieler, denen wir den Status einer Person zuschreiben.

Wie hängen nun Erleben und Sprache zusammen? Ich werde zunächst begründen, warum ich unangenehmes Erleben für die Bedingung und den Ursprung von Sprache halte, um anschließend zu zeigen, wie Sprache auf das Erleben zurückwirkt und es erweitert.
Die Grundvoraussetzung für Sprache und gleichzeitig ihre kleinste Einheit ist eine Differenz. In einer völlig gleichförmigen Welt kann keine Sprache entstehen. Erst wenn das Kleinkind mindestens zwei Zustände unterscheiden kann, kann man davon sprechen, daß es in die symbolische Ordnung, also den sprachlichen Raum, eintritt. Die Komplexität des Ablaufs dieses Vorgangs, der beispielsweise von den Psychoanalytikern Jacques Lacan und Julia Kristeva untersucht und beschrieben wurde, ist an dieser Stelle nicht entscheidend. Bedeutsam für unsere Zwecke ist lediglich, daß es einen vorsymbolischen Zustand gibt, der sich von der symbolischen Ordnung unterscheidet, also ein vorsprachliches Erleben, das aber den Keim zur Sprache schon in sich trägt. Dieser Keim sind die Unterschiede im Erleben: warm und kalt, laut und still, hell und dunkel. Ein Erleben, das keine Unterschiede kennt, ist schwerlich als Erleben beschreibbar. Diese Feststellung bedeutet, daß schon das Unsagbare sprachlich strukturiert ist. Deswegen können wir sagen, daß Tiere, obwohl sie nicht begrifflich sprechen können, dennoch fähig sind zu kommunizieren.
Man könnte sich vorstellen, daß die Schwankungen in Temperatur, Lautstärke und Helligkeit im Erleben nur sehr klein sind; daß es zwar zu Unterschieden kommt, diese aber nicht relevant ausfallen, d.h. das Kind nie die Not der Existenz zu spüren bekommt. Dieses Kind wäre vermutlich wunschlos und würde ebenso bewegungs- und sprachlos bleiben. Erst die Erfahrung des Unangenehmen oder des Mangels läßt einen Wunsch entstehen. Dieser Wunsch setzt in Bewegung. Das Schreien des Säuglings ist der akustische Ausdruck des Unwohlseins und die erste Form sprachlicher Äußerung. Ich möchte somit behaupten: Unwohlsein ist die Bedingung und der Ursprung von Sprache.

II.3.2 Die Rolle der Sprache für das Erleben

Um nun genauer zu verstehen, welche Rolle die Sprache für das Erleben spielt, möchte ich verschiedene Klassen von Erleben unterscheiden. Ich werde dabei die Begriffe “Erleben” und “Gefühl” als übergeordnete Begriffe benutzen und “Empfindung” und “Emotion” als untergeordnete Begriffe, als spezielle Formen von Erleben oder Gefühl.
(1) Eine Empfindung ist ein Erleben, das unabhängig von Sprache ist, wie physische Schmerzen oder nicht-erkennende Wahrnehmung.
(2) Eine nicht-subjektbezogene Emotion ist ein Erleben, bei dem Sprache eine Rolle spielt, wie bei den Gefühlen Angst oder sexuelle Erregung.
(3) Eine subjektbezogene Emotion ist ein Erleben, bei dem Subjektsprache eine Rolle spielt, wie bei den Gefühlen Scham oder Stolz. 1
Wenn wir eine Schmerzempfindung haben, ist sie, wie sie ist, unabhängig davon, wie die Situation ist, in der wir uns befinden, unabhängig von unserem Wissen und unserem Selbstbild. Es macht hierfür keinen Unterschied, auf welche Weise Salz in die Wunde gelangt, ob durch uns selbst oder durch einen anderen – absichtlich oder aus Versehen. Es tut immer gleich weh. So will ich den Begriff “Empfindung” verstanden wissen. Die Rolle des Satzes “Ich habe Schmerzen” ist nicht die einer Zuschreibung, sondern die einer Schmerzäußerung – ein Ersatz des Schreiens. Wittgenstein: “»So sagst du also, daß das Wort >Schmerz< eigentlich das Schreien bedeute?« - Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht."[ref]Wittgenstein PU §244.[/ref] Nicht-subjektbezogene Gefühle wie Angst hingegen setzen eine Interpretationsleistung des Fühlenden voraus. Er muß die Situation, in der er sich befindet, bewerten. Wenn jemand nachts alleine auf die Straße geht, hat er Angst, weil er die Situation als bedrohlich ansieht. Man kann auch sagen: Er glaubt oder er ist der Überzeugung, daß die Situation bedrohlich ist. Die Bewertung der Situation ist ein vorsubjektsprachlicher Vorgang, den Taylor "import-attributing" (etwa: "bedeutungszuschreibend") nennt. Um Angst fühlen zu können, muß ich ein gewisses Niveau an Sprachfähigkeit besitzen; ein Niveau, das wir auch manchen Tierarten zugestehen. Angst hat aber auch eine subjektsprachliche Komponente. Wenn mich jemand aufgrund eines gewissen Verhaltens fragt, was mit mir sei, mag ich mich mit meiner aufrichtigen Antwort, ich hätte Angst, täuschen. Das ist etwas, was mir bei Empfindungen nicht passieren kann. Dies zeigt, daß "Ich habe Angst" keine Äußerung von Angst ist, sondern eine Selbstzuschreibung aufgrund innerer Befindlichkeit und äußerer Umstände. Gefühle wie Scham sind hingegen subjektbezogen, d.h., sie setzen voraus, daß es ein Subjekt des Erlebens gibt. Scham, Reue, Stolz können nur Wesen empfinden, die über eine reflexive Sprache verfügen, die ein Selbstbild und ein Selbstbewußtsein haben. Wenn ich mich schäme, schreibe ich der Situation eine bestimmte Bedeutung für mich als Subjekt zu. Dies ist nur möglich, wenn meine Sprache Subjekte kennt. Es geht dabei um das, was ich für mich und andere darzustellen glaube; es geht um das, von dem wir glauben, daß es uns als Menschen, als Personen ausmacht. Wenn ich jemanden absichtlich verletze, mag ich mich danach für meine Tat schämen, da ich wider meine Überzeugungen gehandelt habe, wie man mit anderen Menschen umgehen sollte. Meine Überzeugungen sind Teil meiner Personalität. Ein Tier hat keine Personalität und kann sich folglich nicht schämen.[ref]Taylor will das nur eingeschränkt gelten lassen, wenn er sagt, daß ein Tier sich nicht auf dieselbe Art schämen kann wie wir: "But suppose we hold this point in suspense for a moment, and concede for the sake of the argument that baboons have a sense of dignity. Nevertheless this must be toto caelo different from ours, because our sense of dignity, and shame, and moral remorse, and so on, are all shaped by language." Taylor (1985) S. 69. Aber was sollte das anderes heißen, als daß ein Tier sich nicht schämen kann? Es meint vermutlich, daß wir manchmal geneigt sind, über ein Tier aufgrund seines Verhaltens zu sagen, es scheine sich zu schämen; beispielsweise über den Hund, der sich unter dem Sofa verkriecht, nachdem er für das Umwerfen einer Vase ausgeschimpft wurde. Das bedeutet aber nur, daß wir den Hund in diesem Moment personalisieren. D.h., wir vergessen das, was wir sonst über Hunde glauben, weil wir uns in bestimmter Weise mit ihm auseinandersetzen wollen. Wir erzählen uns gewissermaßen eine neue Geschichte über den Hund; eine Geschichte, in der er ein Subjekt ist, in der er unsere Sprache versteht (wir reden mit ihm!) und in der er Scham empfinden kann. Aber zu sagen, er empfinde Scham, obgleich er kein sprachfähiges Subjekt ist, ist ein Widerspruch. Entweder das eine oder das andere, aber nicht beides.[/ref] Ebenso wie ich mich irren kann, daß ich Angst habe, kann ich mit der Auskunft "Ich schäme mich" fehlgehen. Kennten wir uns selbst so gut, daß ein Irrtum in diesen Fällen ausgeschlossen wäre, wären Sitzungen bei Psychoanalytikern ziemlich langweilig, aber vor allem sinnlos. Dort soll ja gerade herausgefunden werden, welche Dinge mich in meinem Innersten bewegen. Bisher habe ich von der Rolle, die Sprache bei unserem Erleben spielt, nur zwei Aspekte beschrieben, nämlich daß Subjektsprache Gefühle begrifflich fassen kann und daß Überzeugungen, z.B. vorsubjektsprachliche Bewertungen von Situationen, Gefühle auslösen können. Nun ist zu zeigen, daß Subjektsprache Gefühle formen, vertiefen und ändern kann. II.3.3 Der Einfluß von Subjektsprache auf das Erleben Der Einfluß der Sprache kann nicht über den Weg des begrifflichen Fassens von Gefühlen gehen, da es für das Gefühl egal ist, wie ich es nenne. Ob ich für das Gefühl den Begriff "Angst" verwende oder "Liebe" oder "Arbeitsamt" ändert für das Erleben gar nichts. Ich werde damit nur unverständlich oder irreführend für eventuelle Zuhörer. Der Einfluß kann nur über die Bedeutungszuschreibung der Situation, sprich: über den Glauben des Fühlenden laufen. Man kann Gefühle mit Hilfe von Sprache verändern, indem man die Situation, in der die Gefühle auftreten, neu beschreibt, ihr eine neue Bedeutung zuweist. Wenn jemand Angst vor Spinnen hat, ist es erstens möglich, akute Angstgefühle zu beseitigen, indem man ihm glaubhaft versichert, daß die Situation nicht bedrohlich ist, weil der Fleck gar keine Spinne ist. Zweitens kann man ihm gründlicher helfen, indem man ihm etwas über Spinnen erzählt, mit ihm Spinnen beobachtet, ihn Spinnen anfassen läßt, kurz: ihm hilft, Spinnen zu verstehen. Es gilt dabei, seinen Glauben über Spinnen zu verändern. Je weniger verinnerlicht dieser Glaube ist, desto leichter ist eine Einflußnahme möglich. Steht er das nächste mal einer Spinne gegenüber, wird er diese Situation bei erfolgreicher Behandlung nicht mehr als bedrohlich ansehen und keine Angst mehr haben. In noch weitergehender Weise ist ein Einfluß auf subjektbezogene Emotionen ausübbar. Zum einen ist es genau wie bei nicht-subjektbezogenen Emotionen möglich, das Gefühl durch Neubeschreibung der Situation zu beseitigen. Man zeigt der betreffenden Person, daß es keinen Grund gibt, sich zu schämen, weil die Situation anders ist, als sie dachte. Möglicherweise hat sie jemand belogen, so daß sie aufgrund falscher Annahmen handelte. Oder man zeigt ihr, daß die Gründe, die sie anführt, nicht hinreichend sind; daß man sich z.B. für seinen Namen nicht zu schämen braucht, da man nichts dafür kann, wie man heißt. Zum anderen kann man dadurch, daß man die Bedeutungszuschreibung einer Situation präzisiert, die subjektbezogenen Emotionen genauer beschreiben, ihnen eine klarere Form geben und sie dadurch vertiefen und intensivieren. Taylor liefert dafür ein Beispiel: Wir sollen uns vorstellen, daß wir uns stark zu jemandem hingezogen fühlen, daß wir eine Art Liebes-Faszinations-Hingezogenheit ihm gegenüber fühlen, aber daß wir nicht sagen können, was es genau ist. "Then we come, perhaps under his influence, to think very highly of certain qualities or causes or achievements; and these are qualities which he exhibits, causes he has espou- sed, achievements he has realized. Our feeling now takes shape as admiration. And we come to be able to apply this term to it."[ref]Taylor (1985) S. 70.[/ref] Man könnte es also so fassen: Wir schreiben einer Situation eine Bedeutung zu und haben gewisse Gefühle, die wegen der ungenauen Beschreibung diffus bleiben. Durch das Reflektieren über die Situation können wir die Situation präziser beschreiben, geben unseren Gefühlen eine klarere Form und können wiederum diese genauer benennen. Dies führt dazu, daß das Erleben tiefer und intensiver wird. Dieses Feld ist weitaus komplexer, als ich es hier referiert habe. Doch ist es für meine Argumentation unerheblich, wie die Wechselwirkungen von Erleben und Sprache im Detail ablaufen. Wichtig ist nur, zu sehen, daß eine Wechselwirkung vorliegt, daß Erleben Sprache erst ermöglicht und daß Sprache das Erleben beeinflußt und zu manchen Formen von Erleben sogar erst den Zugang verschafft. Dies widerlegt behavioristische und reduktionistische Positionen, die behaupten, die Welt sei vollständig beschreibbar ohne einen Rückgriff auf unser Erleben. Tatsächlich sind solche Positionen erst vertretbar - und das heißt: formulierbar - durch die Fähigkeit zu sprechen, deren Voraussetzung, wie gezeigt, das Erleben ist. Wie dargelegt werden konnte, gründet die These der Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus in einem irreführenden Bild von dem Zusammenspiel von Erleben, Sprache und Welt. Die Wahrheit wird dabei nicht als Eigenschaft von Sätzen verstanden, sondern als Eigenschaft entweder der Innen- oder der Außenwelt. Versteht man aber, daß nur Sätze wahr oder falsch sein können und daß von einer Innen- und einer Außenwelt zu reden nur heißt, auf zwei Arten über die Welt zu reden, löst sich der scheinbare Widerspruch auf und Freiheit und Determinismus werden vereinbar. Sprache ist ein Produkt des Erlebens, das durch die erlebten Differenzen von Anfang an sprachliche Struktur aufweist, und Sprache wirkt auf das Erleben zurück, bringt manche Arten des Erlebens erst hervor. Dieses Verwobensein von Sprache und Erleben drückt sich in Wittgensteins Bild der Sprache aus. Die zwei zu unterscheidenden Arten, Vorgänge in der Welt zu erklären, sind die Analyse und die In- terpretation. Im einen Fall zeigen wir einen Mechanismus auf, im anderen Fall einen Sinn. Von der Freiheit habe ich behauptet, daß sie nur in der hermeneutischen Geschichte vorkommt. Doch was haben wir uns dann unter Freiheit vorzustellen? -> III.

Notes:

  1. Die Begriffe ‘subjekt-bezogen’ und ‘nicht-subjekt-bezogen’ übernehme ich von Charles Taylor. Die Originalbegriffe sind ‘subject-referring’ und ‘non-subject-referring’. Vgl. Taylor (1985).