II. ERLEBEN UND SPRACHE

<- I.

II.1 Innen- und Außenwelt

Ich habe in meinen einleitenden Worten von einem Mißverständnis gesprochen, dem diejenigen Autoren unterliegen, die Freiheit und Determinismus für unvereinbar halten. Diesem Mißverständnis liegt meiner Ansicht nach ein irreführendes Bild vom Zusammenspiel von Erleben, Sprache und Welt zugrunde; nämlich ein Bild, nach dem Existenz und Wahrheit unabhängig von Erleben und Sprache sinnvoll gedacht werden können; ein Bild, das zurückgeht auf Descartes’ Leib-Seele-Dualismus.

II.1.1 Die cartesianische Dichotomie

Der cartesianische Dualismus fußt auf dem Gedanken, daß die Wirklichkeit vollständig in zwei Phänomenbereiche unterteilbar ist: auf der einen Seite die physischen (Leib), auf der anderen die mentalen Phänomene (Seele). Von letzteren können wir gesichertes Wissen erlangen, von ersteren nicht, da mich zwar meine Wahrnehmung täuschen kann, nicht aber mein Denken. 1 Das zugrundeliegende Bild sieht demnach folgendermaßen aus: Es gibt eine Außenwelt, zu der ich keinen unmittelbaren Zugang habe. Es gibt eine Innenwelt, zu der ich als denkende Substanz unmittelbaren Zugang habe. Die Vermittlung zwischen Außenwelt und Innenwelt leisten meine Sinne, die mich bisweilen täuschen.
Auch Kants transzendentaler Idealismus hält an der Unterscheidung von Innen- und Außenwelt fest, doch nimmt er die Rolle der Sprache ernster: Die Gegenstände der Außenwelt wirken auf meine Sinne ein, “affizieren” sie, was zu einer “Anschauung” der Gegenstände führt. Mit Hilfe des Verstandes, der mir die Begriffe zu den An- schauungen liefert, gelange ich zu Erkenntnis. Diese ist aber immer von meinem Verstand präformiert. D.h., die Welt, wie ich sie erkenne, ist von mir gemacht; die “Dinge-an-sich” sind von mir nicht erkennbar. Die cartesianische Suche nach etwas Unbezweifelbarem und Ewigem führte bei Kant zur Entdeckung der synthetischen Urteile apriori und der Bedingungen für die Möglichkeit von Erfahrung. Kant verbindet Descartes’ Rationalismus und Humes Empirismus, indem er erklärt, daß für das Erlangen von Wissen sowohl die Sinne als auch der Verstand ihren Teil beitragen, und vollzieht dadurch die “kopernikanische Wende”: Er findet Regeln, die der Geist sich selbst gegeben hat, um zu Erkenntnis zu gelangen, und macht uns somit gewissermaßen zum Schöpfer unserer eigenen Welt. 2 Wie die Dinge wirklich sind, können wir demnach nicht wissen. Dafür können wir herausfinden, wie die Präformationsmuster unserer Erfahrungen beschaffen sind.
Obwohl die Antworten auf die Frage nach der Möglichkeit und dem Status von Erkenntnis und Existenz im Epiphänomenalismus, psychophysischen Parallelismus und in der Identitätstheorie, in den behavioristischen und den physikalistischen Theorien unterschiedlich ausfallen, kann man diese Theorien dennoch in einer Linie mit Descartes und Kant sehen: Sie alle halten an der Dichotomie von Innen- und Außenwelt fest. 3 Deswegen haben sie auch alle mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die Verbindung zwischen den Welten plausibel darzustellen; es sei denn, sie leugnen unplausiblerweise einfach eine der Welten, wie manche der radikalen Ausformungen erwähnter Theorien.

II.1.2 Kants Stehenbleiben auf halber Strecke

Wittgenstein bestreitet weder die Existenz der Innen- noch der Außenwelt. Er versucht lediglich zu zeigen, daß die Dichotomie von Innen- und Außenwelt, die den eben genannten Positionen zugrunde liegt, in die Irre führt. Gegen diese Dichotomie geht er an, wenn er sagt, daß unsere Welt, solange sie sprachlich artikulierbar ist, vollständig sprachlich ist. Von einer “Welt-an-sich” zu reden heißt dann nur, zu behaupten, daß es etwas gibt, das unsprachlich ist und von dem man sich überlegen kann, ob man es z.B. als die Ursache unseres Sprechens bezeichnen will. Das Bild, das sich durch die Metapher der “Welt-an-sich” aufdrängt, ernst zu nehmen und als Grundlage einer Theorie zu benutzen, heißt Unsinn reden, da dort, wo Sprache endet, kein Sinn mehr existiert.
Richard Rorty wirft dem deutschen Idealismus, namentlich Kant und Hegel, deswegen vor, auf halbem Wege stehengeblieben zu sein. Sie seien zwar willens gewesen,

“die Welt der empirischen Wissenschaften als eine gemachte Welt anzusehen – Materie als vom Geist gemacht oder als Geist, der sich seiner eigenen geistigen Natur nur unzureichend bewußt ist, zu betrachten. Aber sie hielten an der Vorstellung fest, daß Geist, Vernunft, die Tiefen des menschlichen Selbst, eine immanente Natur haben – eine Natur, die für eine Art nicht-empirischer Überwissenschaft namens Philosophie erkennbar sei. Das bedeutete, daß nur die Hälfte der Wahrheit – die niedere, wissenschaftliche Hälfte – gemacht war. Die höhere Wahrheit, die Wahrheit über den Geist, die Provinz der Philosophie, war noch immer mehr eine Sache der Entdeckung als der Erschaffung.” 4

Kant habe, so Rorty, von Locke die “Kontamination von Rechtfertigung und Kausalerklärung, d[ie] grundlegende[…] Verwirrung, die in der Idee einer »Erkenntnistheorie« enthalten ist”, übernommen. Den Grund für das Stehenbleiben sieht er darin, daß Kant seinen “Vormarsch in die Richtung einer propositionalen, nicht perzeptuellen, Auffassung von Erkenntnis […] mit einem Begriffsrahmen kausaler Metaphern unternommen” 5 habe. Rechtfertigung und Kausalerklärung werden demnach von Kant nicht als zwei streng zu unterscheidende Weisen, über die Welt zu reden, gesehen, obwohl man im Falle der Rechtfertigung nach Gründen fragt und im Falle der Kausalerklärung nach Ursachen, so daß man als Antwort einmal eine hermeneutische und einmal eine analytische Geschichte erhält, die denselben Vorfall betreffen mögen und sogar beide vollständig und wahr sein können.

II.1.3 Analytische und hermeneutische Geschichten

Der Analytiker beschreibt ein Fußballspiel, indem er nach den Ursachen der Geschehnisse fragt. Er redet von Ausdauer, von Laktatwerten, von physikalischen Kräften, von Muskelbewegungen, von chemischen Prozessen etc. Doch er kann nicht von Fehlern, Teamgeist, Willen, Gedanken, Enttäuschung, Wut oder Schuld sprechen, da dieses Vokabular dem Hermeneutiker vorbehalten ist, der nach den Gründen fragt. So geben beide auf die Frage, warum der Torwart den Ball nicht gehalten hat, zwei völlig unterschiedliche Antworten. Der Analytiker könnte erklären, daß der Ball mit dieser oder jener Geschwindigkeit ankam, weil der Schütze mit dieser oder jener Kraft auf den Ball einwirkte, und daß der Torwart so und so groß ist und in der und der Ecke stand. Worauf der Hermeneutiker erklären mag, daß mit dieser Aussage, die sicherlich wahr ist, noch gar nichts mitgeteilt wurde, da in ihr nicht deutlich wird, daß der Grund für das Fallen des Tores ein Fehler des Torwarts war, der die Spielsituation falsch eingeschätzt hatte, weil er psychisch noch nicht wieder ganz der Alte war, nachdem er im letzten Spiel fünf Dinger reinbekommen hatte. Der Analytiker erklärt also etwas, indem er die zugrundeliegenden Naturgesetze aufdeckt, der Hermeneutiker, indem er das zu Erklärende als Fall von rationalem Verhalten darstellt.
Den Schritt von einer perzeptuellen zu einer propositionalen Auffassung von Erkenntnis hat Wittgenstein vollzogen. Diesem Schritt liegt eine Feststellung zugrunde, die Rorty so zusammenfasst:

“Wir müssen zwischen der Behauptung, daß die Welt dort draußen ist, und der Behauptung, daß Wahrheit dort draußen ist, unterscheiden. Daß die Welt dort draußen ist, daß sie nicht von uns geschaffen ist, heißt für den gesunden Menschenverstand, daß die meisten Dinge in Raum und Zeit die Wirkungen von Ursachen sind, die menschliche mentale Zustände nicht einschließen. Daß die Wahrheit nicht dort draußen ist, heißt einfach, daß es keine Wahrheit gibt, wo es keine Sätze gibt, daß Sätze Elemente menschlicher Sprachen sind und daß menschliche Sprachen von Menschen geschaffen sind. Wahrheit kann nicht dort draußen sein – kann nicht unabhängig vom menschlichen Geist existieren -, weil Sätze so nicht existieren oder dort draußen sein können. Die Welt ist dort draußen, nicht aber Beschreibungen der Welt.” 6

Wer die Wahrheit in der Welt sucht und nicht in den Beschreibungen der Welt, muß zu dem Schluß kommen, daß Freiheit und Determinismus sich gegenseitig ausschließen. Wer die Wahrheit in der Beschreibung sucht und zwischen analytischer und hermeneutischer Beschreibung unterscheidet, der findet die Freiheit im Vokabular des Hermeneutikers wieder.
Ebenso finden sich dort die Begriffe “Handeln”, “Person”, “Überzeugung”, “Wunsch” und “Wille” wieder, die das begriffliche Fundament für den Begriff “Freiheit” liefern und die deswegen im folgenden noch eine wichtige Rolle spielen werden. Diese Begriffe brauchen wir, um uns und unser Tun in der Welt zu verstehen. Es gibt dasjenige, was diese Begriffe bezeichnen, genauso wie es dasjenige gibt, was die Begriffe “Toaster”, “Atome” und “Neuronen” bezeichnen. Eine Handlung ist zwar auch eine Verschiebung von Atomen im Raum-Zeit-Kontinuum, doch wir können sie nicht darauf reduzieren, ohne dabei das Verständnis der Bewegung als Handlung zu verlieren. Deswegen ist es wichtig, analytische und hermeneutische Sprechweisen über die Welt auseinanderzuhalten.
Ich werde nun im folgenden eine Theorie über das Zusammenspiel von Sprache, Erleben und Welt vorstellen, die sich weitestgehend auf die Bedeutungstheorie stützt, die implizit in Wittgensteins “Philosophischen Untersuchungen” zu finden ist. 7 Dadurch soll deutlich werden, daß diese drei Elemente nicht sinnvoll unabhängig voneinander gedacht und untersucht werden können, daß somit die Rede von absoluten Entitäten in die Irre führen muß.
Zunächst möchte ich einige Begriffe, die ich im weiteren verwenden werde, klären: Ich werde “Selbstbewußtsein” als die Fähigkeit verstehen, sich selbst zum Thema werden zu können, über sich reflektieren zu können. Der Ausdruck “zum Thema werden zu können” deutet an, daß ich Selbstbewußtsein als eng mit Sprachfähigkeit verknüpft denke. Unter “Sprache” werde ich hauptsächlich unsere menschliche Sprache verstehen. Doch da wir auch von Tieren manchmal sagen möchten, daß sie kommunizieren, werde ich manchmal zwischen “Subjektsprache” und “vorsub- jektsprachlicher Kommunikation” unterscheiden. Mit “Subjektsprache” meine ich dabei eine Sprache, die Erfahrungssubjekte oder Selbste kennt, die “Ich” und “Du” sagen läßt, die Begriffe und Bedeutung (in einem tieferen Sinn des Wortes) kennt. Unter “vorsubjektsprachlicher Kommunikation” verstehe ich sowohl die Kommuni- kation von Tieren als auch beispielsweise die sogenannte “Körpersprache” der Menschen. Ich werde auf die Unterscheidung Subjektsprache und vorsubjektsprachliche Kommunikation an anderer Stelle noch genauer eingehen.

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Notes:

  1. Vgl. Descartes (1986).
  2. Vgl. Kant (1990).
  3. Daß der Behaviorismus nur die andere Seite der Medaille des Leib-Seele-Dualismus ist, zeigt bei- spielsweise Wittgenstein in seinem berühmten “Käfer-Beispiel” in: Wittgenstein (1984) PU §293.
  4. Rorty (1999) S. 23.
  5. Rorty (1987) S. 180/181.
  6. Rorty (1999) S. 23/24.
  7. Wittgenstein meint, Philosophen sollten keine Theorien aufstellen, sondern lediglich beschreiben, wie gesprochen wird. Deswegen würde er von sich selbst nicht sagen, er habe eine Bedeutungstheorie entwickelt.