I. FREIHEIT UND DETERMINISMUS

Seltsam im Nebel zu wandern
Einsam liegt jeder Busch und Stein
Kein Baum sieht den andern
Jeder ist allein

Voll von Freunden war mir die Welt
Als noch mein Leben Licht war
Nun da der Nebel fällt
Ist keiner mehr sichtbar

Wahrlich keiner ist weise
Der nicht das Dunkel kennt
Das unentrinnbar und leise
Von allem ihn trennt

Seltsam im Nebel zu wandern
Leben ist einsam sein
Kein Mensch kennt den andern
Jeder ist allein

(Hermann Hesse)

Wir sind, wenn wir philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen.

(Wittgenstein PU §194)

I. FREIHEIT UND DETERMINISMUS

I.1 Die Idee des Determinismus

Ein Stoß des Queues setzt die weiße Kugel in Bewegung. Sie rollt auf eine Gruppe bunter Kugeln zu, die als Dreieck angeordnet sind. Mit großer Wucht stößt sie in die Spitze des Dreiecks und wie auf Kommando springen die harten Bälle in alle Richtungen auseinander. Es kommt zu weiteren Zusammenstößen, bei denen die Kugeln Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit abrupt ändern. Manche bleiben stehen. Diejenigen, die an den Rand des Tisches kommen, werden von der Bande zurückgeworfen, um wieder auf Kugeln zu treffen, die wieder auf Kugeln treffen, und so fort. In einer idealen, reibungsfreien Welt würde dieses Rollen und Zusammenstoßen, einmal in Gang gesetzt, endlos weitergehen.

Kennten wir in einer solchen Welt die Zahl, Position, Energie und Bewegungsrichtung der Kugeln zu einem Zeitpunkt, dazu die Maße des Tisches und die Gesetze, nach denen das Rollen und Zusammenstoßen abläuft, wäre es uns möglich, für jeden Zeitpunkt in der Zukunft und in der Vergangenheit die Lage der Kugeln anzugeben. Das ist die Idee des Determinismus.

Auf unsere Welt übertragen lautet ihre Auskunft: Wüßten wir alles über den Zustand der Welt zu einem Zeitpunkt und kennten wir alle Naturgesetze, könnten wir (theoretisch 1) den Zustand der Welt zu jedem Zeitpunkt vor und nach diesem Zeitpunkt berechnen. Das scheint zu bedeuten, daß alles Geschehen auf Erden komplett vorherbestimmt ist. Es gab einmal einen großen Knall, und seitdem spult sich ein unaufhaltsames, unbeeinflußbares Programm ab. Das eine Geschehen bedingt das andere. Der Weltverlauf wäre dann nur ein sehr komplexes Aneinanderstoßen von sehr komplexen Billiardkugeln.
Nun gehen wir davon aus, daß die Geschehnisse in der Welt Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Tatsächlich müssen wir, um die Welt um uns herum verstehen zu können, annehmen, daß sie Gesetzmäßigkeiten unterliegt, daß sich die Vorgänge in der Welt nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung gegenseitig bedingen. Dieses “müssen” ist Ausdruck für Kants Erkenntnis, daß der Satz “Alles, was geschieht, hat seine Ursache” ein synthetisches Urteil apriori ist. 2 Eine Bedingung für die Möglichkeit von Erkenntnis ist genau die Annahme, daß die Ereignisse in der Welt kausal miteinander verbunden sind. Wir können also gar nicht anders, als die Welt als eine deterministische Welt zu sehen: Die Kugel bewegt sich jetzt auf diese Weise, weil sie vorher mit einer Kugel zusammengestoßen ist, die jene Energie und Bewegungsrichtung hatte. Und sie selbst hatte zu dem Zeitpunkt des Zusammenstoßes diese Richtung und Energie, weil sie vorher mit jener Kugel zusammenstieß etc. Doch in einer Welt, in der man zu jedem Geschehen eine endlose Kausalkette bilden kann, in der alles determiniert ist, scheint für eines kein Platz zu sein: für Freiheit.
Andererseits reden wir davon, daß wir frei sind, daß wir frei handeln können und einen freien Willen haben. Wir fühlen uns manchmal frei und manchmal unfrei. Und zumindest in der westlichen Kultur ist Freiheit ein hohes Gut. Der Schlachtruf der Französischen Revolution “Liberté, Egalité, Fraternité”, der erste Vers der deutschen Nationalhymne “Einigkeit und Recht und Freiheit”, die Freiheitsstatue als Wahrzeichen New Yorks, der Stadt, die manchmal als Hauptstadt der westlichen Welt bezeichnet wird – das alles spricht für die enorme Wertschätzung, die dieses Gut genießt. Auch unser Rechtssystem, die Praxis der Bestrafung, aber auch der Heldenverehrung gründen sich auf der Annahme, daß der Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden kann, daß er somit frei ist in seinen Entscheidungen seine Handlungen betreffend. War er nicht frei, weil er unter äußerem (eine Pistole am Kopf) oder innerem Zwang (Krankheit) gehandelt hat, wird er zu einem geringeren Grad oder überhaupt nicht verantwortlich gemacht und somit weniger streng oder gar nicht bestraft. Wir können – so scheint es – auf die Idee der Freiheit nicht verzichten. Müssen wir also auf die Idee der Bedingtheit verzichten?

I.2 Über die Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus

Es sieht so aus, als müsse man eine der beiden Intuitionen zu Gunsten der anderen aufgeben: Entweder sind wir frei und die Welt ist nicht bedingt, oder die Welt ist bedingt und wir sind nicht frei. Ein Vertreter dieser Ansicht ist z.B. Peter Van Inwa- gen. Er behauptet, daß freier Wille und Determinismus unvereinbar sind; ohne sich allerdings zu entscheiden, auf welche der beiden Ideen wir verzichten sollten. 3
Ein anderer Philosoph, Thomas Nagel, ist der Ansicht, daß wir auf keine der beiden Ideen verzichten können und somit vor einem ernsten Dilemma stehen. Da dieser Zustand für reflektierende Wesen unerträglich ist, bietet er uns einen Freiheitsersatz an. Er unterscheidet zwei verschiedene Blickwinkel, die wir in bezug auf uns selbst und auf die Welt einnehmen können. In der Innenperspektive können wir handeln, aber nicht beobachten, in der Außenperspektive beobachten, aber nicht handeln. Als Handelnde fühlen wir uns frei, als Beobachtende unfrei. Wenn wir über uns reflektieren und dadurch die Außenperspektive einnehmen, sind die Erklärungen, die wir für unsere Handlungen geben, kausaler Natur, und wir können zu jeder Handlung endlose Kausalketten bilden. Wir sind Teil eines Geschehens und lassen nicht geschehen.

Aus der Innenperspektive heraus gibt es dagegen eine endgültige Erklärung für Handlungen: der Verweis auf meine Absicht. Oder wie Nagel schreibt:

“Mein Grund für die Handlung ist der alleinige Grund dafür, warum sie erfolgt, und eine weitere Erklärung ist weder notwendig noch möglich. (Und wenn ich etwas aus keinem besonderen Grund tue, haben wir es mit einem Grenzfall einer Erklärung zu tun.)” 4

Er glaubt weiterhin, daß wir immer eine der beiden Perspektiven einnehmen müssen, aber nie beide gleichzeitig einnehmen können. Da wir uns als reflektierende Wesen bisweilen in der Außenperspektive als Teil einer deterministischen Welt sehen müssen, kommt es immer wieder zum Gefühl der Unfreiheit. Sein “Substitut für Freiheit” will gegen diese Unzufriedenheit vorgehen und macht sich den Umstand zu nutze, daß wir niemals vollständig von der Innen- in die Außenperspektive wechseln können, da wir dann keine Instanz mehr wären, die wahrnimmt, sondern die reine Wahrnehmung.

Es muß immer jemanden geben, der beobachtet, und das bedeutet, daß es immer etwas gibt, was diese Instanz selbst gerade nicht beobachten kann – nämlich sich selbst als beobachtende Instanz. Nagel nennt dies den “blind spot”. Dieser “blinde Fleck” garantiert uns, daß wir niemals eine vollständig externe Perspektive einnehmen können, daß wir niemals alles wissen können. Er bindet uns an die Handlungsperspektive und verhindert somit, daß wir der Freiheit irgendwann einmal ganz verlustig gehen könnten.

Roderick Chisholm dagegen glaubt, “jeder von uns ist, wenn wir wirklich handeln, ein erster, seinerseits unbewegter Beweger.” 5 Als Handelnde seien wir kein Glied der kausalen Kette, sondern Initiatoren einer solchen Kette und insofern frei. Freiheit ist nach dieser Theorie mit Determinismus zwar unvereinbar, doch als Handelnde sind wir nicht determiniert. Es geht nicht um verschiedene Perspektiven wie bei Nagel, es ist kein Nicht-Sehen der Unfreiheit, sondern echte Freiheit. Aber ist eine solche – unbedingte – Freiheit verständlich?

Alle drei Autoren verbindet die Ansicht, daß Freiheit und Bedingtheit nicht zusammengehen. Während Van Inwagen meint, wir müßten uns deswegen entweder vom Determinismus oder vom freien Willen verabschieden, und Nagel glaubt, daß wir nur solange frei seien, wie wir unreflektiert unsere Bedingtheit nicht erkennten, versucht Chisholm die Freiheit zu retten, indem er uns als Handelnde aus der kausalen Geschichte herausnimmt und zu Quasi-Gottheiten macht.
Jede der Argumentationen scheint überzeugend. Was sollte Freiheit anderes sein, wenn nicht die Abwesenheit von Bedingtheit? Da wir die Welt als eine deterministi- sche ansehen müssen, wir uns aber bisweilen frei fühlen, scheint uns nichts anderes übrig zu bleiben, als zu konstatieren: Es gibt keine Freiheit, oder Freiheit wird uns nur von unserem Bewußtsein vorgegaukelt, oder Freiheit ist etwas Göttliches, und insofern wir Götter sind, sind wir frei.

I.3 Die Gegen-Intuition

Doch trotz der Plausibilität und der intuitiven Kraft der Argumente, hatte ich, seit ich mich mit diesem Thema beschäftige, immer das Gefühl, daß an diesen Geschichten irgendetwas nicht stimmt. Denn wenn der Determinismus dafür steht, daß alles vorherbestimmt ist, daß also kein Platz für Zufall und freies menschliches Eingreifen vorhanden ist, dann kann – so meine Intuition – aus dieser Theorie nichts für uns als Handelnde folgen. Sie steht da wie der Monolith in Kubricks “2001 – Odyssee im Weltraum”: ein seltsamer, eleganter, schwarzer, aus dem Nichts aufgetauchter Stein, der, indem er bei den Affen offenbar einen Bewußtseinssprung bewirkt, die Geschichte der Menschheit einleitet. Doch nüchtern betrachtet steht vor den Affen lediglich ein schwarzer Stein im Sand – und es folgt aus ihm nichts. Er hat keine Vorgeschichte, keine Vergangenheit, er weist in keine Richtung, keine Zukunft, er übermittelt keine Botschaft. Er ist einfach nur da. Natürlich ist er interessant, da er überhaupt nicht in die gewohnte Lebenswelt integrierbar ist, und bekommt dadurch etwas Überirdisches und Absolutes. Aber da man ihn nicht in eine kohärente Geschichte der eigenen Lebenswelt einbinden kann, bleiben auf Dauer nur drei Möglichkeiten: ihn anbeten, ihn ignorieren oder ihn funktional nutzen, z.B. als schwarzes Brett oder zum Aufhängen von Wäsche.
Verhält es sich nicht ganz ähnlich mit der Idee des Determinismus? Manche Menschen sind von ihr fasziniert, die meisten ignorieren sie, andere nutzen sie funktional, z.B. Naturwissenschaftler oder auch analytische Philosophen, um mit ihrer Hilfe die Welt zu beschreiben. Wir brauchen die Idee, um intelligente Dinge tun zu können; nur: Wir können aus ihr keine Handlungsanweisungen ableiten. Es ist absurd zu sagen, “Was ich mache, ist sowieso vorherbestimmt, und deswegen bringe ich mich um” oder anzunehmen, “Da die Welt deterministisch ist, kann ich niemanden für sein Verhalten verantwortlich machen und nehme deswegen nichts mehr übel.” Aus einer solchen Einsicht folgt eben nichts Derartiges; es kann kein “deswegen” geben. Ich kann aus einer deterministischen Theorie meine Handlungen betreffend nur den Schluß ziehen: Ich mache, was ich mache.
Aus diesen Überlegungen entwickelte sich bei mir die Überzeugung, daß bei den genannten Autoren ein Mißverstehen des Begriffes “Freiheit” vorliegt, das sich auch an folgendem Sachverhalt deutlich machen läßt: Wenn wir uns als determiniert verstehen, sind wir nicht unfrei, sondern wir bewegen uns gar nicht in einem Bereich, in dem von Freiheit die Rede sein kann. Es gibt sozusagen keinen Spielraum, in dem wir frei oder unfrei sein könnten. Doch erst als ich mich mit Ludwig Wittgensteins später Philosophie auseinandersetzte, wurde es mir möglich, diese Gedanken weiterzuentwickeln.

I.4 Die Untersuchungsmethode

Wittgensteins philosophische Methode, die er in den “Philosophischen Untersuchun- gen” vorstellt und anwendet, ist die der Diagnostik und der Therapie. Er ist der Auffassung, daß die Probleme der Philosophie nur daraus entstehen, daß Philosophen die Sprache “feiern” lassen. Sie nähmen die Bilder, die die Sprache liefere, für bare Münze und wunderten sich über die Probleme, die daraus entstünden:
“Freilich, wenn das Wasser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Topf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?” 6

Die Philosophen, so legt Wittgenstein nahe, nähmen an, daß im Bild-Topf auch etwas koche. Ihr nächster Schritt wäre womöglich, daß sie Theorien darüber aufstellten, warum der Bild-Dampf seine Form nicht veränderte, warum keine blubbernden Geräusche zu hören seien, warum keiner komme, den Topf vom Herd zu nehmen. Aus einer derartigen Vorgehensweise entstünden die großen philosophischen Probleme, die deswegen auch nie gelöst, sondern nur beseitigt werden könnten, da sie auf völlig falschen Grundannahmen basierten. Wittgenstein fordert vielmehr:
“[W]ir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d.i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. Diese sind freilich keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen. Diese Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten. Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.” 7
Eine philosophische These könne nur ein Satz sein, dem jeder sofort zustimmen würde, weil er so klar einsichtig ist. Die wahre Aufgabe der Philosophie müsse es sein, die sprachlichen Verwirrungen, auf denen die philosophischen Probleme basierten, zu diagnostizieren und zu therapieren: “Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.” 8 In der Therapie wird darauf gebaut, daß das nötige Wissen, wie die Frage zu beantworten ist, längst implizit beim Fragenden vorhanden ist, daß ihm lediglich geholfen werden muß, es explizit zu machen.
Dieser Behauptung liegen folgende Annahmen zugrunde: Das, was wir über uns und die Welt sagen können, ist notwendig sprachlicher Natur, und alles, was außerhalb der Sprache liegt, ist nicht sagbar. Als kompetente Sprecher einer Sprache wissen wir somit im Grunde alles Wesentliche, was man über die Welt sagen kann – allerdings nur implizit. «Und wenn wir uns ständig irrten, weil uns beispielsweise ein böser Geist eine Sprache gegeben hat, die nichts mit der Welt zu tun hat?» 9 Die Garantie dafür, daß unsere Sprache etwas mit der Welt zu tun hat, ist dadurch gegeben, daß die Sprache von den Sprechenden/Erfahrungmachenden selbst gemacht ist (und ständig von ihnen in einem kollektiven Prozeß verändert, erweitert und auch verkürzt wird), und dadurch, daß Kommunikation in der Regel funktioniert.

Philosophie zu betreiben bedeutet demnach für Wittgenstein, unser Sprechen zu analysieren, zu sehen, wo sprachliche Bilder uns in die Irre führen, und durch Aufde- cken des Irrtums den Weg aus dem Irrgarten zu zeigen. Dabei ist gerade das meta- physische Fragen nach dem Wesen der Dinge – “Was ist Wahrheit?” oder “Was ist das Gute?” oder “Was ist Freiheit?” – für ihn die Eintrittskarte in den Irrgarten, da es so tut, als gäbe es, losgelöst von unserem Erleben und unserem Sprechen, etwas zu entdecken:
“Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – »Wissen«, »Sein«, »Gegenstand«, »Ich«, »Satz«, »Name« – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.” 10
Die Fragen, die wir uns stellen müssen, sind: “Wie gebrauchen wir die Begriffe? Was verstehen wir im Alltag darunter, wenn wir meinen, etwas sei wahr oder unwahr, gut oder schlecht, frei oder unfrei?”
Derjenige, der auf diese Weise die Sprache untersucht, führt keine Beweise an und leitet nichts ab. Er beschreibt lediglich den Sprachgebrauch, konstruiert Beispiele, in denen der Zusammenhang von Begriffen oder die Verwendungsweise eines Begriffes besonders klar werden soll, fragt: “So sprechen wir doch? So gebrauchen wir die Begriffe, nicht wahr?” und hofft darauf, der Leser möge zustimmen und seine eigenen Intuitionen in den Beschreibungen wiedererkennen. Auf diese Weise soll das implizite Wissen von Autor und Leser nach und nach zu einem expliziten werden.
Insofern meine Untersuchungsmethode darauf abzielt, die allgemeinsten Grundzüge unserer begrifflichen Strukturen freizulegen, insofern sie versucht, eine Art “Grammatik” unseres gewöhnlichen Denkens aufzuzeigen, insofern sie eine Theorie über unsere Praxis des Sprechens aufstellt und nicht nur die Praxis beschreibt, insofern folgt sie Strawsons Idee der Philosophie als deskriptiver Metaphysik und geht über Wittgensteins therapeutische Methode hinaus. Die Fragen, die sich dann stellen, sind: “Auf welche Weise sind die Begriffe miteinander verknüpft?”, “Was leistet der Begriff bezüglich des Verständnisses unseres Seins in der Welt?”, “Welchen Beitrag leistet der Begriff zu unserer Erfahrung?” 11

I.5 Der Überblick

Das Ziel meiner Arbeit ist es, zu zeigen, daß wir uns als Sprechende notwendig als frei annehmen müssen und daß dies gleichbedeutend ist mit der Aussage, daß wir frei sind; daß es also keinen Sinn macht zu sagen: “Wir müssen uns als frei ansehen, aber wir sind nicht wirklich frei.” Diese Freiheit ist somit kein “bloßes” theoretisch- philosophisches Konstrukt, sie ist auch kein Substitut, sondern sie ist real; “real” in dem Sinne, daß wir uns und unser Sein in der Welt ohne sie nicht verstehen würden und es uns als Personen nicht geben würde.
Im Kapitel “Erleben und Sprache” werde ich deswegen auf den Zusammenhang von Erleben und Sprache eingehen und eine genauere Darstellung von Wittgensteins Bild der Sprache liefern. Mir geht es dabei darum, zu zeigen, daß die Behauptung der Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus auf einem irreführenden Bild vom Zusammenspiel von Welt, Sprache und Erleben beruht. Zweitens möchte ich darlegen, auf welche Weise sich Sprache und Erleben gegenseitig bedingen und beeinflussen, um drittens zwischen zwei Arten von Freiheit unterscheiden zu können, die für uns als erlebende, handelnde, reflektierende Wesen wichtig sind: die Handlungs- und die Willensfreiheit.
Im Kapitel über die Handlungsfreiheit werde ich darstellen, wie die Begriffe “Handeln”, “Wünschen”, “Wollen” und “Urheberschaft” miteinander verknüpft sind und daß diese Begriffe – wie auch der Begriff “Freiheit” – Teil einer hermeneutischen und keiner mechanistischen Geschichte sind. Darüber hinaus soll klar werden, warum für uns die Sätze “Ich bin frei” und “Ich fühle mich frei” in einem relevanten Sinne dasselbe bedeuten und daß wir frei sind in unserem Handeln, wenn wir tun können, was wir wollen. Als reflektierende Wesen, als Personen, haben wir zusätzlich Willensfreiheit.

Im Kapitel “Der Begriff der Person” werde ich nahelegen, den Personenstatus als eine Zuschreibung zu sehen, als ein Produkt subjektsprachlicher Interaktion. Dafür werde ich zwei Arten von Interaktionen unterscheiden: subjektsprachliche und vorsubjektsprachliche oder auch personale und funktionale Interaktion. Diese Differen- zierung dient dazu, Interaktionen von Personen klar von Interaktionen von Nicht-Personen, z.B. Tieren, zu trennen, und beruht auf Harry Frankfurts Idee, Personen von Nicht-Personen aufgrund ihrer Fähigkeit zur “reflektierenden Selbstbewertung” zu unterscheiden. Auf der Grundlage von Charles Taylors Theorie der starken und schwachen Wertungen werde ich daraufhin innerhalb der subjektsprachlichen/personalen Interaktion nochmals unterscheiden zwischen funktionaler und personaler Interaktion, um zwischen Interaktionen zu trennen, bei denen der Interaktionspartner nur in seiner Funktion, und Interaktionen, bei denen er als Person wahrgenommen wird. Mit Peter Strawson kann ich zeigen, daß man nicht entweder rein funktional oder rein personal handelt, sondern daß es gleitende Übergänge zwischen eher personalen und eher funktionalen Handlungen gibt: Ich kann meinen Mitmenschen mit mehr oder weniger Objektivität gegenübertreten. Schließlich werde ich einen Einwand gegen meine Ansichten formulieren und ihn auf zwei Arten zurückweisen. Dadurch gelingt es mir, die Realität der personalen Interaktion zu begründen.
Im Kapitel über die Willensfreiheit werde ich zunächst Freiheit über Wittgensteins “Privatsprachenargument” herleiten und Willensfreiheit als Entscheidungsfreiheit verstehen. Anschließend werde ich zeigen, wie diese Freiheit im Personsein verankert ist, daß wir, um als Personen zu interagieren, uns und die anderen als frei annehmen müssen und daß diese Freiheit real ist. Daraufhin werde ich untersuchen, welchen Beitrag die Unterscheidung zwischen funktionaler und personaler Interaktion zum Verständnis der Willensfreiheit leistet, um schließlich darzulegen, daß die Art der Interaktion die Freiheitserfahrung der Interagierenden bestimmt. Zuletzt werde ich auf den Zusammenhang von Freiheitserfahrung und Sprache eingehen, die Rolle des Zwangs beim Erleben von Freiheit und Unfreiheit untersuchen und zu verstehen versuchen, was Frankfurts Idee von Freiheit als Übereinstimmung von Volition zweiter Stufe und Wille leistet in bezug auf das Erleben von Freiheit und Unfreiheit.

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Notes:

  1. Daß dies praktisch unmöglich ist, zeigt die Erfahrung mit sogenannten “zellulären Automaten”, die eine ganz einfache deterministische Welt simulieren mit nur wenigen Entwicklungsgesetzen und überschaubaren Zuständen. Trotzdem läßt sich die Veränderung dieser Kleinstwelt über wenige Entwick- lungsschritte hinaus nicht vorhersagen, sondern kann nur – sozusagen in Echtzeit – beobachtet werden. Vgl. Gerhardt/Schuster (1995).
  2. Vgl. Immanuel Kant (1990) B13.
  3. Vgl. Van Inwagen (1978).
  4. Nagel (1992) S. 198.
  5. Chisholm (1978) S. 82.
  6. Wittgenstein PU §297.
  7. Wittgenstein PU §109. Kursiv im Original.
  8. Wittgenstein PU §255.
  9. Ich werde auch im folgenden manchmal Einwürfe eines fiktiven Gegners durch die Anführungszei- chen “«” und Endzeichen “»” kenntlich machen.
  10. Wittgenstein PU §116. Kursiv im Original.
  11. Zur Methode vgl. Strawson (1972) und Bieri (2001). In letzterem v.a. das Kapitel “Erstes Intermezzo” S. 153-161.